100% ICH

einmalig

von einmalig

Story


Ich vergesse Dinge.

Wörter sind schwierig. Da sind Bilder im Kopf, aber die Sprache stolpert und hat Lücken.

Und immer wieder sind Wörter, Termine oder Namen weg. Ohne Vorwarnung setzt die Erinnerung aus. Der Coronavirus hat mich erwischt und nach 3 Tagen Fieber und Kopfschmerz war er eigentlich wieder weg. Husten und Halsschmerzen blieben noch ein paar Tage und die anfängliche Müdigkeit wurde langsam besser. Eigentlich ein milder Verlauf.

Doch nach ungefähr einem Monat wurde die Müdigkeit wieder schlimmer. Jeder Schritt schien mir so anstrengend wie ein ganzer Marathon. Den Weg in den 3. Stock, wo mein Büro ist, war wie das Erklimmen eines Achttausenders. Stufe für Stufe war da das Gefühl, dass ich weder die Kraft in den Muskeln noch die Luft in den Lungen hatte. Ich wollte nur noch schlafen.

Mich plagte auch Migräne. Bei einem Schub dauerte es keine Minute und die Schmerzen kamen von hinten über den Kopf und drückten Ohren und Augen zu. Mir blieb ein Sichtfeld so groß wie eine Münze. Jedes Geräusch tat in den Ohren weh und jeder Geruch verursachte Übelkeit. Ich war im Schmerz gefangen.

Aber schlimmer war für mich der Hirnnebel, der die ganze Zeit da war. Denken war so anstrengend. Es war mir kaum möglich einem Gespräch zu folgen und noch unmöglicher war es, den Inhalt des Gesprächs wiederzugeben. Es dauerte immer so lange bis mein Gehirn alles sortiert und bearbeitet hatte, sodass ich antworten konnte, wenn ich etwas gefragt wurde. Und es gab ein paar Situationen, da war alles weg und mein Hirn setzte für ein paar Sekunden aus und startete neu: „Aha, das ist ein Tisch, das muss mein Kollege sein, ich bin im Büro, auf meinen Notizen steht etwas. Oh mein Gott, was sind das für Kennzahlen? Ich arbeite im Controlling. Ich muss das doch kennen? Worüber haben wir geredet?“ Ich fühlte mich so hilflos. Ich wusste nicht, wann wieder ein Denkaussetzer kam. Beim Umsteigen von einem Bus in den anderen. Beim Spazierengehen. Mitten in einer wichtigen Besprechung. Ich konnte mir selbst nicht mehr vertrauen. Ich weinte aus Angst und aus Verzweiflung. Was ist, wenn ich vergesse, wer ich bin?

Ich will das nicht. Ich war beim Arzt. Ich trainiere Körper und Geist: Ich übe laut Sprechen. Ich spiele Gedächtnisspiele. Ich notiere mir alles. Ich habe ein Morgenritual, damit ich Energie in meinen Körper pumpe. Ich mache Pausen. Ich höre Entspannungsmusik. Ich gehe spazieren. Ich mache Yoga. Jeden Tag achte ich auf meine Gesundheit – Ich mache, was mich stark macht. Jetzt ist es ein halbes Jahr her und ich bin einigermaßen stabil. Ich habe mein Leben neu strukturiert.

Ein kleiner Virus hat mich angegriffen, aber der Virus kann nicht meinen Willen zerstören. Ich kämpfe mich zurück.

Mein Ziel ist 100% ICH!



© einmalig 2023-07-23

Genres
Romane & Erzählungen, Biografien
Stimmung
Herausfordernd, Emotional