von Uschi Höberth
Als ich meine Augen öffne, liege ich erneut am Boden. Unter meinen Füßen spüre ich jedoch nicht den eisigen Kiesel, sondern wohlig warmes Kopfsteinpflaster, das die Kälte aus meinen Knochen zu vertreiben beginnt. Ich blinzle gegen eine warme Mittagssonne und erkenne vor mir das Kaffee Korb, in dem ich unzählige glückliche Stunden gemeinsam mit Freunden verbracht habe. Zumindest weiß ich, wo ich bin, auch wenn ich keinerlei Ahnung habe, wie um alles in der Welt ich in Wien landen konnte.
Rund um mich herum scharen sich bereits neugierige Betrachter, die mich in meinem Nachthemd zwar etwas kritisch beäugen, insgesamt aber erleichtert scheinen, als sie sehen, dass ich wieder bei Sinnen bin. Erst dann fällt mir auf, dass die Frauen und Männer um mich herum ungewöhnlich gekleidet sind. Während die Männer fast alle ein Sakko mit Krawatte und lange Hosen tragen, sind die Damen in lange, schlichte bis aufwändig bestickte Kleider gehüllt, allesamt mit Stiefeletten und Hut. Der Kleidungsstil erinnert mich stark die Jugendfotos meiner Eltern, die mir meine Mutter einmal gezeigt hat.
Eine ältere Frau kniet neben mir und hält meine Hand. „Welches Jahr haben wir?“, frage ich sie mit etwas zittriger Stimme, denn mir ist noch immer eiskalt und irgendwie befürchte ich, den Verstand verloren zu haben. „Gnä‘ Frau, Sie hat es aber ordentlich erwischt. Heute ist der 20. Juli 1900. Aber machen Sie sich keine Sorgen, der Arzt ist schon verständigt.“ Aufmunternd drückt sie meine noch immer kalte Hand, ihre besorgte Miene, jedoch, spricht eine andere Sprache.
Heute ist also scheinbar der 20. Juli 1900. Und ich bin in Wien. Nur, wie ergibt das alles Sinn? Möglicherweise ist das alles nur ein Fiebertraum, den ich als Reaktion auf die Medikamente für meine Therapie habe. Denn Arvid ist tot. Es nur zu denken, fällt mir schwer. Aber dass er mit mir ins alte Wien gereist ist, das ist schier unmöglich. Vermutlich erwache ich schon bald in meinem neuen Verlies im Asyl, wo ich den Rest meiner Tage fristen werde. Vielleicht sollte ich diesen Fiebertraum also ja lieber genießen. „Gehen Sie zur Seite, ich bin Arzt“, höre ich eine Männerstimme sagen und drehe mich nach ihr um. Der Mann, der sich mir nähert, ist wohl um die vierzig. Er ist groß, schlank und elegant gekleidet und trägt einen dichten Bart. Und es ist Sigmund Freud.
© Uschi Höberth 2023-09-07