15. Abschiedsbrief

LM P

von LM P

Story

Wenn ihr das hier lest, dann ist es schon zu spät. Dann werde ich nicht mehr sein. Wenn ihr das hier lest, habe ich mich schon umgebracht. Dies ist mein zweiter Abschiedsbrief, den ich für euch schreibe. Ihr wollt die ganze Wahrheit? Hier ist die ganze Wahrheit: Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr leben. Ich kann das nicht mehr mitmachen, es geht nicht. Es ist zu spät, niemand kann mich mehr ins Leben zurückholen. Ich hab echt versucht, zu überleben, zu kämpfen, aber es geht nicht mehr. Wenn ihr euch jetzt denkt, dass ich übertreibe, dann tuts mir echt leid, dass ihr den Schuss nicht gehört habt. Vielleicht hätte ich mir vor euren Augen die Pulsadern aufschneiden sollen, vielleicht hättet ihr mir dann geglaubt. Damit ihr mir glaubt, lege ich einen Ausschnitt meines Tagebuches mit hinter. Ich fühle mich so unverstanden. Ihr habt mein ,,nicht-mehr-leben-wollen“ belächelt. Ihr werdet sehen, geht mich suchen, ihr werdet mich nirgendwo lebendig mehr wiederfinden. Das ist kein Witz. Ich weiß, ihr findet, dass ich ein kleines, schwaches und naives Mädchen bin, dass keine Ahnung vom Leben hat. Aber ich hätte mir wenigstens etwas Verständnis gewünscht. Kennt ihr euer Kind überhaupt? Wusstet ihr, dass sich euer Kind geritzt hat? Überall habe ich Narben, weil ich das alles nicht mehr ausgehalten habe. Nur so konnte ich was fühlen. Nur so hab ich so lange durchgehalten. Immer wenn ihr mich runtergemacht habt, mich beleidigt habt, musste ich taff vor euch stehen bleiben und durfte nicht heulen. Ihr habt mich nicht beleidigt? ,,Du bist doch krank. Vielleicht solltest du mal zum Arzt gehen!“, ,,Du bist so ein faules Stück!“, ,,Sieh, was du angestellt hast, du Stück Dreck!“, ,,Ich will dich nie mehr sehen, du bist für mich gestorben! Und dich Rotzgöre nenne ich Tochter?“, ,,Hör auf, wegen jeden kleinem Pieps zu heulen!“ Ihr habt mich traumatisiert. Ich war nie genug für euch. Eure eigene Tochter, die man lieben und pflegen sollte, war euch nie genug! Ich habe gegen Wände geschlagen, um mir den Schmerz zuzufügen, den ich laut euch verdient habe. Euretwegen verzweifle ich an mir selbst. Ich tat mir selbst weh, wegen den Menschen, die mich verletzt haben. Ihr habt mein Kopf gefickt! Jede beschissene Nacht, habe ich nicht schlafen können und wenn doch, hatte ich Alpträume. Jeden Tag, jede Nacht spielen sich die gleichen Szenen in meinem Kopf ab. Es ist ein endloser Faden, der mich immer weiter runterzieht. Doch ich kann nicht loslassen. Ich habe versucht, vor der Realität zu flüchten, mich abzulenken. Stattdessen wurde es nur schlimmer. Ich bekam plötzlich Panikattacken, zitterte so dermaßen am ganzen Körper. Ich fing an mich mit Alkohol und Nikotin zuzupumpen. Nichts half. Das einfache wehtun, reichte nicht mehr aus. Immer wenn ich das Fenster aufmachte, fragte ich mich, wie es sich anfühlen würde, runter zu springen und zu sterben. Sooft hatte ich das im Kopf. Als ich abgehauen bin, war das mein erster unabsichtlicher Suizidversuch. Ich habe unbewusst versucht, mich zu ertränken. Jayden hat mich gerettet und mich mit zu sich genommen. Er hat mir gezeigt, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden. Er kümmerte sich um mich, auch wenn ich mich schrecklich benahm. Aber er haute nicht ab, auch wenn ich ihn kacke behandelt hatte. Er hat keine Ahnung, was mit mir los ist, wieso ich versucht habe, mich umzubringen, aber er blieb bei mir. Dieses Leid, diesen Schmerz und diese Angst täglich durchzumachen, nimmt mir meine letzte Kraft. Jetzt habt ihr, dass was ihr wolltet. Ich geb auf. Ich hoffe, ihr seid nicht all zu traurig.

© LM P 2024-03-04

Genres
Romane & Erzählungen, Spannung & Horror
Stimmung
Herausfordernd, Emotional, Reflektierend, Traurig, Angespannt