von Ronja Hornik
Die Klinge liegt neben dem Waschbecken. Kleine Rostflecken haben sich bereits am Rand gebildet, werden aber überschattet von den feinen rubinroten Tropfen, die sich auf ihr wölben. Ich fluche vor mich hin. Mein Bart ist halb ab und meine Wange blutet wie verrückt. Ich hätte mir eine neue Rasierklinge kaufen und nicht mit der alten einfach fester drücken sollen.
‘Statt einem glatten Gesicht bekomme ich nun eine Blutvergiftung’,denke ich und drücke mir noch mehr Klopapier auf die blutende Stelle. Da will man einmal ordentlich aussehen. Schlimm genug, dass ich heute zur Hochzeit meiner kleinen Schwester muss, jetzt bin ich auch noch der Idiot, der sich mit Anfang dreißig nicht richtig rasieren kann. Dabei habe ich bereits mit sechzehn einen stattlichen Vollbart vorweisen können. Der wuchs immer dichter, während meine Kopfhaare immer mehr zurückgingen.
Jetzt hab ich die Wahl: entweder wie ein Pirat oder ein Baby auszusehen. Meistens entscheide ich mich für den Pirat, aber Leila wollte, dass ich zu ihrer Hochzeit glatt und ordentlich erscheine. Ich bin mir immer noch sicher, dass sie mich am liebsten gar nicht eingeladen hätte. Ich bin ihr peinlich. Das sehe ich jedes Mal an ihrem Blick, wenn wir zusammen unterwegs sind.Meine Stimme ist zu laut, meine T-shirts spannen zu sehr über meinem Bauch und dass mein Hund Calvin aussieht, wie eine tollwütige Ratte macht meine Gesamterscheinung auch nicht besser.
Calvin keift inzwischen wie ein Meerschweinchen mit Raucherhusten vor der Tür und versucht seine kleinen Pfoten unter der Tür durchzuschieben. Ich schmeiße schnell die blutige Klinge in den Müll, wische über die Oberflächen und lasse Calvin endlich rein. Wie ein Verrückter springt er freudig an mir hoch und kommt dabei nicht mal bis zu meinen Knien. Ich bin jetzt schon spät dran, es wird höchste Eisenbahn, dass ich Calvin zu den Nachbarn bringe.
Plötzlich hämmert jemand mit voller Wucht gegen die Tür. Ich öffne und eine schluchzende Leila fällt mir entgegen. “Ich wusste nicht, wo ich sonst hin soll”, bringt sie hervor, nachdem sie sich einigermaßen gefangen hat.
“Möchtest du darüber reden?”frage ich sie, aber sie schüttelt nur den Kopf.
Ratlos stehe ich vor der immer noch offenen Tür und kratze überfordert meinen halben Bart. Was macht man in so einem Fall? Heißt das die Hochzeit fällt aus? Ich stelle keine meiner Fragen. Stattdessen hole ich Taschentücher, setze einen Kaffee auf, und lege Leila eine Decke um die Schultern.
Zehn Minuten später fängt es wieder an, gegen meine Tür zu hämmern. An den wütenden Rufen nach Leila merke ich, dass es ihr Wohl-Nicht-Mehr-Zukünftiger ist. Ich sehe Leila an, aber die schüttelt hastig den Kopf. Panik spiegelt sich in ihren Augen. Statt dem Klopfen scheint er sich jetzt mit seinem vollen Körpergewicht gegen die Tür zu schmeißen. Als sie aus den Angeln bricht, sehe ich wie Leila ins nächste Zimmer flieht. Ich bleibe zurück und bereue es sofort. Ein dumpfer Schlag, dann wird alles schwarz.
© Ronja Hornik 2022-08-11