Ich wurde persönlich abgeholt. Einige Tage nachdem ich mich gefragt hatte, ob es denn auch solche Philosophinnen in meiner Umgebung gab, stand plötzlich eine vor unserer WohnungstĂŒr. âHi, ich bin Luciaâ, stellte sie sich vor. Die Aussprache ihres Namens klang wie LĂŒ-Sia. Sie war einen Kopf gröĂer als ich und hatte markante GesichtszĂŒge. Ihr Style erinnerte mit ihrem eleganten Dutt, dem schlichten schwarzen Kleid und der funkelnden Kette entfernt an Audrey Hepburn. Sie wirkte in unserer grĂ€sslichen Wohnblocksiedlung völlig deplatziert.
âBevor du fragst â ich nutze Xanthippygramâ, erklĂ€rte sie mit ihrer tiefen und zugleich melodischen Stimme. Als ich immer noch nichts sagte, redete sie schon weiter: âFalls du dich das fragst â ja, ich bin Trans. Unser Zirkel ist offen fĂŒr alle Frauen.â Ich brachte immer noch kein Wort heraus. âWir hĂ€tten Yuki schicken sollenâ, sinnierte Lucia, âalle Leute vertrauen ihr auf Anhieb. Aber sie ist ja viel zu beschĂ€ftigt mit diesem Vergleich zwischen japanischen, chinesischen, spanischen und amerikanischen Anarchistinnen. Das Thema wurde ihr wohl von Emma eingeredet.â Ihr Gerede erschreckte mich. Aber Lucia konnte mir endlich Antworten geben. âWarum ich?â, piepste ich wortkarg.
âNa, weil du Philosophie wunderbar findest!â, lĂ€chelte Lucia.
âWie kommt ihr denn darauf?â, fragte ich vorsichtig.
âNa, weil du doch âSofies Weltâ so gern gelesen hastâ, behauptete sie.
âWas, ich?!â
âKlar, dein Bild auf Instagram. Sah sehr schick aus.â
Oje, den WĂ€lzer hatte ich doch nie gelesen! Meine Oma hatte mir das Buch mal geschenkt und ich wollte ihr eine Freude machen. Na ja, und ein blöder Kumpel von meinem Freund hatte mal ĂŒber mich gelĂ€stert: âDie kann aber auch gar nichts – auĂer hĂŒbsch aussehenâ. Tja, da wollte ich eben intellektuell wirken. Deshalb habe ich ein tolles Schwarz-WeiĂ-Bild gepostet. Mit schwarzem Rollkragenpulli, âSofies Weltâ in der Hand und einer Tasse Espresso in einem hippen CafĂ©. Ich war aber nie ĂŒber das erste Kapitel hinausgekommen.
âUnd wer seid ihr?â, fragte ich skeptisch. âDas wirst du gleich herausfinden. Keine Sorge, du musst nicht zwischen der blauen und der roten Pille wĂ€hlen, wir sind hier ja nicht bei Matrix und eine Dealerin bin ich auch nicht. Wir fahren mit dem Fahrrad“, sie deutete auf ihr Rad, mit dem sie gekommen war, âĂŒberhaupt finde ich diesen ganzen Matrix-Film so enervierend technisch. Roboter hier, Krieg da, keine BĂ€ume. Deine Namensvetterin, die Göttin Maya aus der indischen Philosophie, hat dagegen viel mehr Stil. Sie lĂ€sst alles in der Ă€uĂeren Welt dualistisch erscheinen und verhĂŒllt so die wahre Wirklichkeit. Die Wahrheit ist also unter einem Schleier verborgen, wĂ€hrend die Wirklichkeit anders ist, als sie scheint. Ein ewiges Prinzip ohne Anfang und Ende. Ist das nicht faszinierend? Wir wissen nicht einmal, ob Maya gut oder schlecht fĂŒr uns ist.â
Gehörte das noch zu ihrem kleinen Vortrag oder zweifelte Lucia an meinen Kompetenzen als Philosophin?
© Anna Theresa Schreiber 2022-04-23