von Jutta Blühberger
Eine Fortbildung in Kenia wird unerwarteter Kontext eines Weltereignisses:
Wir sind ein buntes Gemisch aus Europäern und Afrikanern, die in der Sprachforschung arbeiten. Tagsüber sitzen wir auf alten Schulbänken und lernen, wie man der Grammatik einer ungeschriebenen Sprache auf die Spur kommt. Nachmittags und abends versuchen wir das Gelernte an verschiedenen Lokalsprachen aus mehreren Ländern anzuwenden.
Als ein Kollege Computerprobleme hat, verspreche ich ihm, mir das am Abend näher anzusehen. Auf dem Weg zu den Gemeinschaftsräumen komme ich an der Ecke vorbei, wo der Fernseher steht. Da mich Fernsehen wenig interessiert, bin ich normalerweise um die Uhrzeit auf dem Zimmer. Im Vorbeigehen vermute ich, dass sich die Kollegen einen grausamen Science-Fiction-Film ansehen und denke nicht weiter darüber nach. Das Computerproblem ist bald gelöst und ich komme am Rückweg wieder beim Fernseher vorbei. Inzwischen haben sich noch mehr Kollegen zu dem Zuschauer gesellt und starren gebannt auf den Bildschirm.
Dann dämmert es mir langsam – das ist nicht Science-Fiction, das ist kein Film, das ist Wirklichkeit. Und zwar live aus den USA. Es dauert eine Weile bis aus den diversen Informationsfetzen – Live Mitschnitten, Rückblickszenen, Kommentaren der Moderatoren, Interviewpartner und Zuschauern in Kenia – für mich ein klareres Bild entsteht. Ein Flugzeug ist direkt in einen der Twin Towers in New York geflogen! Was? Wieso? Das gibt es doch nicht! Wer ist so verrückt?
Bevor ich noch ganz begreife, was da passiert, zeigen sie wie ein weiteres Flugzeug in den zweiten Twin Tower fliegt. Es ist unglaublich, unbegreiflich und surreal! Es fühlt sich wirklich an, wie aus einem Science-Fiction-Film. Wir sind alle sprachlos. Uns fehlen die Worte. Dann stürzt der erste Turm ein, wenig später der zweite. Schockstarre! Als dann die Diskussionen losgehen unter den Teilnehmern, ziehe ich mich zurück und erzähle meiner Zimmernachbarin davon.
In den nächsten Tagen diskutieren wir als Kursteilnehmern viel darüber. Wir hören in den Nachrichten wie die amerikanischen Politiker auf diese Anschläge mit Drohungen reagieren. Auch darüber wird diskutiert und ich bin fasziniert, wie anders meine afrikanischen Kollegen damit umgehen würden. Ähnlich wie die Menschen aus dem Nahen Osten kommen sie aus sogenannten Scham-orientierten Kulturen und verstehen besser als Europäer und Amerikaner, dass man in dieser Art Kultur mit Konfrontation und Herabsetzen des Gegenübers das Gegenteil erreicht, von dem, was man wahrscheinlich beabsichtigt.
Ich kann mich nicht erinnern, wie sie es genau formuliert haben. Aber mir ging damals durch den Kopf, dass wir vermutlich viel von ihnen lernen könnten. Wie wäre die Geschichte verlaufen, wenn die Mächtigen anders reagiert hätten? Das weiß keiner!
© Jutta Blühberger 2021-04-07