von Marianna Vogt
«Fräulein Gabi, bitte, Sie sind als Nächstes für das Prüfungsgespräch an der Reihe. Nehmen Sie in der Ihnen zugewiesenen Kabine Platz», forderte der Prüfungsexperte sie auf.
Mit zittrigen und schweißnassen Händen setzte Gabi die Kopfhörer auf und wartete auf den Beginn des Examens.
Gabi konnte die Stille bis zum Start der Prüfung fast nicht ertragen. Dann, endlich, klingelte ihr Telefon: «Guten Tag, Meyer am Apparat, wie kann ich Ihnen helfen?»
«Grüezi, ich benötige die Adresse von Dora Gantenbein in XYZ», antwortete eine tiefe Männerstimme.
«Einen Moment bitte, bleiben Sie am Apparat, ich schaue gleich nach.»
Nach kurzer Zeit meldete sich Gabi zu Wort: «Sind Sie noch am Apparat?», fragte sie höflich.
«Ja, bin ich», antwortete der Mann etwas ungehalten.
«Danke fürs Warten. Dora Gantenbein wohnt am Tulpenweg 3a. Ich buchstabiere: Thun – Uetliberg – Luzern – Payerne – Eglis …
«Stopp, stopp, stopp», unterbrach sie der Experte. «Fräulein Gabi, das sind Orte in der Schweiz.»
«Ja, das weiß ich», entgegnete sie stolz.
«Mit dieser Antwort wären Sie durchgefallen. Aber weil sie so ein nettes Mädchen sind, geben wir ihnen eine zweite Chance.»
Gabi war den Tränen nahe. Sie schnäuzte die Nase und umklammerte ihren rechten Daumen ganz fest: «Theo – Ursula – Lilly – Peter – Emi …»
Wieder unterbrach sie der Experte und schüttelte dabei unmissverständlich den Kopf: «Fräulein Gabi, es hat keinen Sinn die Prüfung fortzusetzen. Gehen Sie nach Hause und lernen Sie die Namen der Buchstabiertafel auswendig. Wenn Sie sattelfest sind, können Sie sich wieder bei uns melden.»
Er begleitete Gabi zum Ausgang und klopfte ihr väterlich auf die Schulter: «Fräulein Gabi, das wird schon werden, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen!»
Fiktive Geschichte
Titelbild: Schiefertafel im Museum Johanna Spyri.
Unter der Tafel war zu lesen: Viele Schulkinder waren zu Johanna Spyris Zeit nicht sattelfest im Lesen und Schreiben. Was könnte der Grund dafür gewesen sein?
Im Winter besuchten die Kinder die Schule 24 und im Sommer 18 Stunden.
Das Johanna-Spyri-Museum befindet sich im ehemaligen Schulhaus, einem schmucken Fachwerkhaus im Dorf Hirzel, oberhalb des Zürichsees, wo Johanna Spyri ihre Kindheit verbrachte. Die mit viel Liebe zum Detail zusammengestellte Ausstellung beleuchtet ihr Leben, die Familiengeschichte und ihr gesellschaftliches Engagement.
Johanna Spyri hat unzählige Kinderbücher geschrieben.
1879 erschien der erste Band: Heidis Lehr- und Wanderjahre. 1881 folgte der zweite Band: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. HEIDI ist eines der meistgelesen Bücher. Es wurde in 55 Sprachen übersetzt und mehrfach verfilmt. Heidi wird hoffentlich auch in 100 Jahren noch so populär wie heute sein!
© Marianna Vogt 2024-04-21