Abschiedsbrief

Theodor Leonhard

von Theodor Leonhard

Story

Geliebte Mama, geliebter Papa! Wenn ihr diesen Brief lest, lebe ich hoffentlich nicht mehr. Ich sehe keinen Ausweg. Ich muss es tun. So kann ich nicht weiterleben.

Georg hat mich verlassen. Ich bin so enttäuscht, wie ich es noch nie war in den 27 Jahren meines Lebens. Ich war noch nie so einsam. Das kann ich nicht ertragen.

Dabei habe ich früher schon viele Hänseleien einstecken müssen. In der Schule wurde ich ausgelacht, weil ich wegen meiner Behinderung am linken Bein im Sport nicht so mitkam wie die meisten anderen. An vielen Pausenspielen konnte ich mich nicht beteiligen. “Bauerntrampel” wurde ich oft genannt, weil wir zu Hause eine Landwirtschaft hatten. Da half es mir auch nichts, dass meine Lehrerinnen mich wegen meiner Aufsätze lobte. Das hat mir nur noch den Ruf als Streberin eingebracht. Zu Geburtstagen und Parties wurde ich nur selten eingeladen; und wenn, dann ging ich nur selten hin, weil ich doch nur immer am Rand stand. Oft habe ich still für mich geweint. Und vor allem Du, meine liebste Mama, hast mich oft getröstet.

Aber dass Georg mich jetzt verlassen hat, das ist mir zu viel. Ich kann nicht mehr. Dabei war ich mit ihm ein halbes Jahr so unendlich glücklich. Was habe ich mich gefreut und bin aufgeblüht, als ich gemerkt habe, wie er sich für mich interessiert. Kaum konnte ich es fassen. Unvergesslich unser wunderbarer gemeinsamer Urlaub. Und Ihr seid glücklich gewesen, dass ich jetzt jemanden gefunden hatte. Ihr habt Georg wie Euren eigenen Sohn bei Euch aufgenommen. Wir haben so viel miteinander gelacht und gearbeitet und uns gefreut.

Aber jetzt ist alles zusammengebrochen. Bisher habe ich Euch nichts davon erzählt. Ich hatte einfach nicht die Kraft dazu.

Vor neun Tagen hat er mir gesagt, dass er sich von mir trennt. Er würde die Hänseleien und das Gerede im Dorf nicht mehr ertragen, weil er mit mir befreundet sei. Was ist denn das für eine miese Tour von diesem Arsch. Mir gaukelt er Liebe vor. Wir hatten erst im letzten Monat vom Heiraten gesprochen. Wir haben von einer Familie geträumt. Und jetzt zieht er wegen seiner Kumpels und den Tratschweibern im Dorf seinen Schwanz ein.

Diese Enttäuschung hat mir vollkommen den Boden unter den Füßen weggezogen. Und ich spüre schon die hämischen Blicke im Dorf hinter mir. Es geht nicht mehr.

Ich weiß, meine geliebten Eltern, dass ich Euch etwas sehr Schlimmes antue. Ich bin Euer einziges Kind. Es wird ein ziemlich schwerer Schlag für Euch sein. Ich weiß nicht, wie Ihr das ertragen könnt. Aber ich sehe für mich keinen Ausweg mehr. Mit dieser Enttäuschung kann ich nicht weiterleben. Es geht einfach nicht.

Von ganzem Herzen bitte ich Euch: Vergebt mir, was ich tun muss. Lasst mich in Frieden gehen.

Ich werde jetzt Gift nehmen und dann für immer einschlafen. Falls Ihr mich findet, bevor ich tot bin, laßt mich bitte sterben. Ich werde es sonst immer wieder tun, bis es klappt.

Liebste Mama, geliebter Papa, ich danke Euch für alles. Ich habe Euch sehr lieb,

Eure Tochter F.

© Theodor Leonhard 2021-09-12

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