Ach ja, Gusen gab’s ja auch noch …

Mary Modl

von Mary Modl

Story

Die Alte griff wortlos zur Fernbedienung und drehte den Fernseher ab. Sie hatte sich besseres Feiertagsfernsehprogramm erwartet. In ihren Augen unnötige Diskussionen über den Wert von Arbeit am Tag der Arbeit. Ob die Regierung anstrebe, dass die für zu jung gehaltenen Alten bis zur Vergasung arbeiten sollten, wollte ein etwa fünfzigjähriger Gewerkschaftsfunktionär wissen. Ein Jungspund für sie, einer, für den dieses Thema erst in frühestens fünfzehn Jahren spruchreif sei; einer der keine Ahnung davon habe, was es heiße, bis zur Vergasung arbeiten zu müssen.

Die Frau setzte sich wieder in ihren Lehnstuhl zurück. Sie wollte noch etwas stricken; Hauberl für die armen Gschrapperl in den Lagern auf den griechischen Inseln. Der Ronny Kockert, einst so ein lieber Bua aus dem Nachbarsortschaft Hohenau, organisiert Transporte dorthin. Sie hätte sich nicht auf diese Rundstricknadeln einlassen sollen; verfingen sich ständig in der groben Spitze des Ärmels ihres Flanellnachthemds, sodass dieser raufrutschte … und wieder runter. Und wieder rauf … und wieder runter. So wie damals. Rauf ins Bergwerk, spätabends wieder runter.

Es gelang ihr nicht, ihren Blick von ihrem Unterarm fernzuhalten, das flüchtige Drüberstreifen als solches zu belassen, die bläulich vergilbten Ziffern zu ignorieren. Eine Nummer von unzähligen, Hinweise auf ihre nicht geduldete Abstammung.

Flashback: Beinahe acht Jahrzehnte, die überlebt worden waren, blätterte sie in ihrem Lebensbuch auf. 1943 kam sie mit ihrem Bruder Simon in Gusen II an. Sie war achtzehn, er zwei Jahre älter. Die Eltern waren schon lange weg, Richtung Polen eher. Seit 39 wussten sie nichts von ihnen.

Die Schuld, derer sie sich bewusstwerden sollten, dort in Gusen, wurde ihnen durch den Stern auf ihrer Kleidung und durch ein eingebranntes Nummerndasein bewusst gemacht. Diese Schuld sollten sie dort abarbeiten. Im „Bergkristall“, in dem die Me262 – die Messerschmitt’sche Wunderwaffe der Nazis – hergestellt wurde, sollten sie sich ihrem Schicksal „Vernichtung durch Arbeit“ ergeben.

Alleine der Weg vom Lager bis zum Stollen bedeutete mehrere Kilometer täglich. Unterernährt und ausgemergelt nach einer Zwölfstundenschicht unter Tag war dieser kaum mehr retour zu bewältigen. Der Bruder stürzte nach einem Gewehrkolbenhieb in den Magen im April 45 in den Tod. Sie überlebte, obwohl ihr Name bereits auf der Deportationsliste zu den Öfen nach Mauthausen – nur ein paar Kilometer weiter – gestanden war. Es war purer Zufall gewesen. Die Barackennummer war falsch eingetragen worden. Irgendjemand war für sie gehalten worden. Für sie in den Tod gegangen. Sie war für tot erklärt gewesen. Doch sie konnte den Amis ihr Ich beweisen.

Mauthausen kennt heutzutage jeder. Gusen kann seit einigen Jahren besichtigt werden. Rundgänge werden angeboten, zweimal jährlich an Gedenktagen. Die Frau bei mir ums Eck ist nie wieder dort gewesen, in der Hölle aller Höllen, wie sie dieses Lager nannten.

© Mary Modl 2021-05-18

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