von Alma Amicae
„Alle 11 Minuten verliebt sich ein Single“ lese ich auf der Webseite des Online-Datingportals Parship. Ich habe ein richtig mulmiges Gefühl im Bauch – eigentlich will ich mich hier nicht anmelden. Die Wunden der letzten Beziehung haben Narben hinterlassen. Bin ich wirklich bereit, einen neuen Mann kennenzulernen? Ihn in mein Leben zu lassen? Mein Herz zu öffnen? Einem Algorithmus mein Herz anzuvertrauen?
Es ist November 2020. Die Corona-Infektionszahlen haben gerade wieder einen Rekordstand erreicht. Der nächste Lockdown klopft bereits an die Tür. Ich sitze hier in meinem neuen Leben, seit eineinhalb Jahren in einer neuen Stadt, seit einem halben Jahr getrennt und nun in meiner 2-Zimmerwohnung. Freunde habe ich hier keine, lediglich meine Arbeit und einige Kolleginnen und Kollegen. Es ist ein Leben allein, das erste Mal.
„Los jetzt“, reißt mich mein Kumpel Krystof aus meiner Gedankenblase, „wir melden dich jetzt hier an.“ Das erklärte Ziel seines Wochenendbesuchs ist, mich endlich bei Parship anzumelden. Bewaffnet mit einer Flasche Wein und zwei Gläsern sitzt Krystof mir gegenüber und liest mir nach und nach die Multiple-Choice-Fragen des Anmeldetests vor. Ich beantworte wahrheitsgemäß alle Fragen in 72 Minuten.
219.000 Minuten nach meiner Anmeldung habe ich die Hoffnung längst aufgegeben, über das Datingportal einen passenden Menschen zu finden, als an Ostern 2021 eine Nachricht von Martin in mein Postfach hoppelt. Eine Woche später beginnt unsere gemeinsame Geschichte mit einem Spaziergang. In den kommenden Wochen schleichen wir wie zwei streunende Katzen umeinander herum, die wachsende Nähe im Gespür, die Neugierde im Gepäck, das bebende Herz in der Brust. Windbeutel backen, deine Nähe genießen, deine ruhige und warme Art aufsaugen. Die ersten Umarmungen, der erste Kuss. Ankommen bei mir, bei dir. Zusammen gehen und immer weiter gehen.
525.601 Minuten nach meiner Parship-Anmeldung bewohnen wir gemeinsam die erste Etage deines Elternhauses. Wir sind glücklich, harmonisch, wir haben uns gefunden. Doch meine Uhr tickt. Tick tack, tick tack. Ich bin 38 Jahre alt. Mein Kinderwunsch drängelt. Kann ich uns schon zumuten, diesen innigen Wunsch in unser Reisegepäck zu laden? Wirst du mir tragen helfen? Was, wenn nicht? Die Angst sitzt tief. Ich warte noch.
569.401 Minuten nach meiner Parship-Anmeldung platzt mein Geheimnis eines Abends aus mir heraus: Ich bebe, ich schluchze, als ich dir stotternd meinen innigsten Herzenswunsch nach Mama-Sein, nach Eltern-Sein, nach Familie-Sein beichte. An diesem Abend hältst du mich einfach, streichst über meinen Kopf, bis ich mich beruhige. Ich werde ruhig. In diesem Moment steht die Zeit still.
Fräulein Sara
© Alma Amicae 2023-01-22