ist das Kind nicht. Es sitzt mit zwanzig anderen Kindern und einer fremden „Tante“ im Zug, mit seiner Puppe auf dem Schoß. Die handgenähte Puppe sieht etwas mitgenommen aus: Die Mutter hatte sie vor der Abreise noch gewaschen, aber man sah ihr an, dass sie beileibe nicht mehr neu war und schon für sehr viele, auch wilde Kinderspiele hergehalten hatte.
Oben, auf der Gepäckablage liegt das Köfferchen mit dem Namensschild des Kindes und um den Hals trägt das Kind ebenfalls ein Namensschild – so, wie alle anderen Kinder.
Die meisten von ihnen sitzen ganz ruhig da, sehen beim Fenster hinaus oder sind mit einem kleinen Spielzeug beschäftigt und beobachten gelegentlich die anderen Kinder. Einige weinen oder haben beim Abschied geweint und sind nun ermattet; zwei oder drei sind eingeschlafen.
Vor dem Einsteigen hat die fremde Tante den Kindern erklärt, dass sie nun eine sehr, sehr weite Reise machen werden; ins Nachbarland. Die Reise soll den ganzen Tag und auch noch die ganze Nacht dauern.
Am Ankunftsort würden sie abgeholt werden, von den Pflegeeltern. Die würden sich schon sehr auf sie freuen und mit ihnen dann nachhause fahren. Bei den Pflegeeltern würden sie das beste Essen bekommen: viele Sachen, die sie lange schon nicht mehr gegessen hätten: saftige Kuchen, mit vielen guten Eiern und Zucker gebacken, frische Bratkartoffel und Apfelmus; dicke Butterbrote und Saft und Kakao. Die Kinder staunten: Es schien ihnen, sie führen tatsächlich ins Schlaraffenland!
Das Kind war schon sehr neugierig und aufgeregt: Wie wohl eine Pflegemutter aussah? Wie die Mutter, ein bisschen? Und es würde immer ganz, ganz brav sein, nahm es sich vor. „Bitte, liebe Pflegemutter!“, sagen, und „Danke, liebe Pflegemutter!“ und „Kannst du mir bitte die Schuhe binden, liebe Pflegemutter?“ Denn das konnte das Kind noch nicht so recht, sich die Schuhe selbst binden. Es hatte noch nie Schuhe gehabt wie die, die es für diese Reise bekommen hatte: Ausgetretene Schuhe von einem Nachbarskind; halbhoh und zum Schnüren: „Damit du nicht an den Füßen frierst!“, hatte die Mutter ihm gesagt. Das Kind war nicht recht froh gewesen, über die neuen alten Schuhe, aber bei seinen eigenen hatte sich, kurz vor der Abreise, die Sohle des einen Schuhes gelöst, also musste es nun mit diesen Schuhen vorliebnehmen.
„Bei euren Pflegeeltern wird es euch sehr, sehr gut gehen!“, hatte die fremde Tante versprochen. Sie hatte nichts gesagt, von Heimweh oder davon, wie lange die Kinder bei diesen unbekannten Pflegeeltern wohnen sollten. Die Kinder hätten sich all dieses auch gar nicht vorstellen können…
© Roswitha Springschitz 2025-03-17