von Lorenz Graf
Nebel, graue düstere Tage, Herbstwind, fliegendes buntes Laub, das ist der November. Er kann auch sonnig und warm sein, aber auch mit Schneetreiben Kälte verbreiten. Als Schüler mochten wir den Novemberanfang gern, verschaffte er uns doch mit Allerheiligen und Allerseelen eine unterrichtsfreie Lernschnaufpause. Es war zu dieser Zeit noch von Montag bis einschließlich Samstag Schule. Nur der Sonntag blieb zur Erholung. Eine schöne Erinnerung an die ersten Novembertage ist immer noch in meinem Gedächtnis lebendig geblieben. Und das war nicht nur der Allerheiligenstriezel. Ich war ein junger Gymnasiast. Gemeinsam mit einem zweiten Gymnasiasten, wir waren die einzigen im Dorf, die eine höhere Schule besuchen durften, wurden wir auserkoren, beim Hochamt zu Allerheiligen die Heilgenlitanei vorzusingen. Die ganze Kirchengemeinde antwortete auch singend. Ein einprägsames Erlebnis, das uns stolz machte und viel Lob einbrachte. Meinen Schwiegervater hatte ich nur zweimal getroffen, da er leider viel zu bald unerwartet verstorben war. Unsere Hochzeit hatte er nicht mehr erlebt. Jahrelang machten meine liebe Gattin und ich uns auf die Reise von Wien ins Mühlviertel, um zu Allerseelen am Grab ihres Vaters zu wachen und zu beten. Der Friedhof verbreitete eine ganz besondere Atmosphäre. Die brennenden Kerzen und die Lichter, die Blumen und Kränze, die vielen Menschen, dazu die Musikkapelle und der Pfarrer mit einer Schar Ministranten, gaben dem Ort etwas Feierliches. Unser andächtiges Verharren wurde öfter unterbrochen, da unsere zwei kleinen Buben um uns herum Verstecken spielen wollten. Das andächtige Geschehen interessierte sie wenig, nur bei der Musik horchten sie kurze Zeit zu. Böse Menschen behaupten auch, dass dieser Friedhofsbesuch einer Modeschau gleiche. Aber Frisuren und Kleidung sah man ohnehin nur, wenn das Wetter es zuließ. In einem bestimmten Jahr war das Wetter unfreundlich, man kann es auch als sehr grauslich bezeichnen. Schwiegermutter und meine liebe, schwangere Frau sahen sich nicht imstande, wegen der eisigen Kälte im Friedhof zu stehen. Die Gesundheit und die Kinder hatten Vorrang. So blieb es an mir hängen, allein am Grab zu verweilen. Eingehüllt in einen langen Mantel kroch dennoch die Kälte an mir empor. Ein eisiger Wind, aus dem ein Schneesturm wurde, blies mir Schneeflocken ins Gesicht. Viele Friedhofsbesucher waren zur Leichenhalle geflüchtet und suchten dort Schutz. Tapfer wie andere Männer auch harrte ich am Grab aus. Ich bewunderte den Pfarrer, der unbeirrt seine fromme Zeremonie absolvierte. Die Musikkapelle hatte es aufgegeben zu spielen. Es hätte die Melodien ja niemand gehört, da der Wind eine zu starke Tonkonkurrenz war. Mit steifen Gliedmaßen, rinnender Nase und zitternd erreichte ich später die warme Stube der Schwiegermutter. Froh, noch als Lebender dem Friedhof entflohen zu sein, genoss ich den heißen Tee, der zum Glück noch mit edel konserviertem, flüssigen Obst aufgebessert war. Mit den Jahren wurden die Grabbesuche immer seltener. Mir machte das nichts aus. An einen lieben Menschen zu denken, ist ja unabhängig vom Ort. Und: Als Lebender unter den Toten muss es nicht zwangsläufig damit enden, dass man dann nach einem Friedhofsbesuch auch zu den Toten gehört.
© Lorenz Graf 2024-10-29