Allerseelen

Evelyn Weyhe

von Evelyn Weyhe

Story

Ich laufe gerne über Friedhöfe. Das Wort beinhaltet Frieden, und den empfinde ich dort ganz stark. Am liebsten habe ich die alten Bereiche, wo verwitterte Grabsteine mit kaum lesbaren Inschriften von Schicksalen erzählen, die man sich selbst dazu denken kann. Nachdenkliche, traurige, aber auch lustige Sprüche sind da zu finden: „Geh weg, ich schlafe!“ steht auf einem. Nett!

Die Phantasie geht auf Reisen, während ich die Stille genieße. In München hat es mir der Bogenhausener Friedhof angetan. Der kleine Friedhof entwickelte sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts zur bevorzugten Begräbnisstätte prominenter Künstler. Ein kulturell interessanter Spaziergang. Aber nichts geht über den größeren, verwunschenen Waldfriedhof, den größten Friedhof in München, mit mehr als 60000 im Wald verteilten Grabstätten. Zwischen all den Gräbern rasten im Sommer Spaziergänger, lesen oder meditieren. Wunderschön.

Aus meiner Zeit in Afrika erinnere ich mich an „Grave Island“, eine zum Sansibar-Archipel gehörende kleine Insel, die letzte Ruhestätte für hundert Gefallene des Ersten Weltkriegs. Hier sank das britische Kriegsschiff „Pegasus“ unter dem Beschuss der deutschen „Königsberg“. Vor vielen Jahren besuchte ich diesen Friedhof und gedachte der zum großen Teil blutjungen Männer, die in dieser sinnlosen Schlacht ihr Leben verloren und weit entfernt von ihrer Heimat hier ihre letzte Ruhestätte fanden.

Allerseelen, der 2. November, ist der Feiertag an dem die römisch-katholische Kirche der armen Seelen gedenkt, die im Fegefeuer schmoren. Zumindest traditionell, denn heutzutage ist das der Tag, an dem die Gräber geschmückt und Lichter angezündet werden, um der Toten zu gedenken. Die Friedhofsgärtnereien und Blumenläden reiben sich die Hände, denn die Hinterbliebenen sparen an diesem Tage nicht. Es sieht wunderschön aus, wenn an diesem Novemberabend die bunten Lichter die blumengeschmückten Gräber beleuchten.

Ich denke auch ohne diesen Feiertag oft an „meine“ Toten, spreche in Gedanken mit ihnen, frage sie um Rat. Wenn ich für jeden von ihnen eine Kerze anzünden würde, ergäbe dies ein unüberschaubares Lichtermeer! Manchmal zähle ich im Stillen auf, wer aus meiner Familie und von meinen Freunden sich schon davongemacht hat. Manche leise und unauffällig, manche nach langen Krankheiten, manche ganz plötzlich und unerwartet. Eine lange Reihe von Seelen, die sich, wie ich mir vorstelle, langsam von der Erde lösen und ins Endlose verschwinden, bis ihre Umrisse nur noch ein heller Schein sind und sich in goldenen Staub auflösen.

Friedhöfe faszinieren mich einfach. Und doch möchte ich mich oder meine Asche niemals begraben wissen. Mein Drang nach Freiheit verlangt es, dass sie mit dem Wind über das Meer davongetragen wird.Vorzugsweise in Andalusien, wenn Mercedes Sosa dazu „Gracias a la Vida“ singt.

© Evelyn Weyhe 2021-11-09

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