Alles kommt jetzt immer so plötzlich,

Waltraud Lehofer

von Waltraud Lehofer

Story

die Hitze und die Kälte und die schwarzen Unwetterwolken und die reifen Kirschen. Da musst du schnell sein mit dem Kirschenpflücken und dem Wischen, wenn das Handy läutet oder beim Doppelklick mit der Maus, aber der will meinem Besten nicht mehr so einfach gelingen. Ich hab gar nichts gemacht, ruft er mich und jetzt geht nichts mehr, schau doch! Nur kurz draufdrücken, versuch ich es zum hundertsten Mal, tut er doch, behauptet er beleidigt und führt mir zum Beweis vor, wie fest er mit ganzem Körpereinsatz zweimal auf die Maustaste drücken kann und bleibt auch gleich drauf. Die Maus hält dem Frontalangriff unbeschadet stand, meine hundert Milliarden Nervenzellen im Oberstübchen schaffen nicht einmal mehr das Gestern. Offensichtlich hab ich erst kürzlich Geld auf der Bank abgehoben und im Bankomat stecken gelassen, auf dem Kontoauszug steht schwarz auf weiß, einhundert Euro stecken gelassenes Geld. Echt jetzt? Das logikbegabte Zerebrum meines Besten kann zwar keine simplen Bedienungsanleitungen wie “ Taste kurz drücken” abspeichern, beherbergt aber noch immer mühelos Kilometer historischer und zeitgeschichtlicher Ereignisse samt Ereignisdatum, mathematische Formeln, kann vor Jahrzehnten auswendig gelernte Balladen und Gedichte wiedergeben, Lateintexte übersetzen und das alles, weil man ihm ja angeblich noch eine solide Allgemeinbildung angedeihen hat lassen und er außerdem auch aus eigenem Antrieb was liest und nicht so strohdumm herumrennt wie manche Jugendliche heutzutage, davon ist er felsenfest überzeugt. Bewundernswert seine Merkfähigkeit im Anbetracht einer hübschen Jahresringzahl, da kann ich, ein gutes Jahrzehnt jünger, leider nicht mithalten. Trotz guter Ausbildung und mitverfolgtem Zeitgeschehen schaff ich es nicht, die abgespeicherten Bildserien im Kopf chronologisch einzuordnen. Da winkt zum Beispiel ein Tyrann auf einem Balkon der versammelten Volksmenge zu. Nächstes Bild: derselbe plötzlich eilig vom Balkon fliehend, dann aus einem Panzer kriechend, schließlich das finale Bild: Ein alter Mann und eine Frau mit Kopftuch tot vor einer Mauer im Gras liegend. Neue Bildserie: Eine andere Mauer, Stück für Stück fallend und jubelnde Menschenmassen davor und dahinter. Alles abrufbar ohne Zeiteinblendung, genau wie die Flugzeuge, die in zwei riesigen Türmen in New York verschwinden und danach der Rauchpilz und die Endlosbilder von Soldaten- und Panzerkolonnen, explosionsartig feuerspeiende Berge, über Land und Menschen stürzende Riesenwellen, Massenhysterie vor Bühnen und Gedränge um Hollywoodschöne auf dem Red Carpet. Die Summe täglicher Informationsflut, zu viel, alles zu schnell für mich! Macht aber nix, ich trag ja jetzt auch mein Zweithirn in der Gesäßtasche mit. Einmal wischtippen (ich kann das!) und schon hab ich das Gesuchte parat! Allerdings frag ich mich schon hin und wieder, ob nicht der eine oder andere Zweithirneintrag eh auch einfach nur zum Vergessen ist.

© Waltraud Lehofer 2021-05-08

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