von Svenja Reithner
Sonntagabend und ich blicke auf 48 Stunden Schweigen zurück. Nicht im Kloster, sondern bei mir zu Hause, auf meinem persönlichen Schweigeseminar. Es dauert noch bis morgen Früh. Womit war ich am Freitag gestartet? Mit dem Vorhaben nicht zu sprechen und noch viel mehr. Kein Internet, keine SMS, kein Fernsehen (mache ich sowieso nicht, da ich seit Jahren keinen Fernseher mehr habe) und kein Lesen. Ich will ganz bei mir sein und mich dem Leben hingeben. Früher habe ich regelmäßig geschwiegen, um zu hören.
Keine Stunde war am Freitag in Schweigen vergangen, kam mir der Gedanke an ein Buch, mit dem alles begann. Mein Weg in die Entwicklung meiner Persönlichkeit. Ich will es lesen. Jetzt. Ich verwerfe es wieder, weil ich an meinem Plan festhalten will, zumindest bis morgen.
Am nächsten Tag beginne ich zu lesen. Das hatte ich bestimmt schon 5-6 Mal gemacht. Es gelesen. An den unterschiedlichen Abschnitten in meinem Leben. An zwei Mal erinnere ich mich ganz bewusst, denn die Welt stand still und mein Leben bewegte sich in eine neue Richtung.
Als ich damals, Ende der 90er, Paulos Buch “Am Ufer des Rio Piedra saß ich und weinte” nach der Erscheinung geschenkt bekam. Ich kannte seinen Namen, hatte jedoch noch nichts von ihm gelesen. Ich wusste damals nicht, was mich an dem Buch so begeisterte, war es doch sehr religiös, was mir beim jetzigen Lesen noch mehr auffällt. Heute weiß ich, was es war. Die Hingabe, die immer wieder am Rande darin auftaucht. Die Hingabe ans Leben, die Botschaft, die vor über 20 Jahren meinen Weg zu mir selbst in Gang gebracht hatte.
Ich erinnere mich an ein weiteres Mal, als ich das Buch gelesen habe. Im Schatten sitzend auf einer ungarischen Pferdeweide, mein Pferd hingebungsvoll im Sonnenschein beim Grasen beobachtend. Davor hatte ich “Die Frau, die an einem ganz normalen Sommertag plötzlich keine Gedanken mehr im Kopf hatte“ gelesen und danach intuitiv zu “Rio Piedra” gegriffen. Darin drehte es sich ebenfalls um die Hingabe ans Leben. Ich hatte es verstanden, das Buch, und doch nicht. Unterbewusst war es angekommen, doch bewusst konnte ich nicht beschreiben, was ich gelesen hatte. Die Zeilen des “Rio Piedra” machten es mir am zweiten großen Wendepunkt meines Lebens verständlicher.
Vor einigen Wochen las ich “Das Experiment Hingabe” und ich verstand, was der Frau ohne Gedanken im Kopf passiert war. Mir ging es genauso. Allerdings hatte ich es über Jahre wieder verloren. Das Experiment Hingabe brachte mich auf die ungarische Pferdeweide zurück und nun an das Ufer des Rio Piedra. An einem weiteren großen Wendepunkt hat mich das Leben erneut zur Hingabe geleitet, ich durfte mich erinnern. Ich bin gewachsen und lebe den Moment.
Heute begeistert mich der Rio Piedra, das erste Buch zum Thema Hingabe, weit nicht mehr so. Es war jedoch der Beginn meiner wunderbaren Reise zu mir selbst, zur Auflösung der Widerstände, die ich in meinem Leben erschuf und immer noch erschaffe und zu einer hingebungsvollen Akzeptanz für das, was ist.
© Svenja Reithner 2021-10-22