An meine Stadt

Melissa-Imani

von Melissa-Imani

Story

Nie zuvor im Leben fühlte ich mich so zu Hause wie bei dir. Ob es daran liegt, dass ich in einer ländlichen Gegend aufwuchs, in der ich die Exotin im Dorf war? Hände ungefragt an meinen Haaren zupften und ich von älteren Damen verjagt wurde, weil sie befürchteten, die Bahnhofssitzbank würde durch mich beschmutzt werden?

Du bist eine Stadt, in der die Hautfarbe keine Rolle spielt. Nicht einmal die Sprache ist maßgebend, um sich heimisch bei dir zu fühlen. Ich grüße auf Französisch, verabschiede mich auf Deutsch. Links höre ich Italienisch gemischt mit Türkisch und die Kinder auf dem Spielplatz rufen sich die neusten Sprüche auf Arabisch zu, auch wenn ihre Muttersprache eine andere ist.

Du bist nicht groß und doch beherbergst du Menschen aus allen Schichten, die friedlich und ohne einander zu konkurrieren, nebeneinander leben. Im Vergleich zum Rest des Landes verfügst du über bescheidene Ressourcen. Wenn ich andernorts von dir erzähle, ernte ich rümpfende Nasen und skeptische Blicke. Fast so, als wäre es zu bedauern, dass ich mir keinen besseren Ort zum Leben ausgesucht habe.

Und doch stelle ich mir Fragen, wenn wieder mal die Polizei bei uns im Vorhof nach verdächtigen Personen im Nachbarhaus Ausschau hält. Oder wenn ich nachts den Pfefferspray fest in der Hand halte, beim allein nach Hause spazieren. Einmal von einer bewaffneten Person verfolgt zu werden hatte gereicht, um mich damit auszurüsten.

Die Hässlichkeit, die in gewissen Ecken lauern, kennen wir Bewohner von dir in- und auswendig. Sie gehört dazu wie die Schönheit, die du uns schenkst. Deine umliegende Natur ist atemberaubend. Die Sommernächte gleichen einem nie endenden Urlaub und die nachbarschaftlichen Freundschaften gehen oft in eine familiäre Struktur hinüber.

Du bist ein verborgener Schatz, dessen Wert man erst beim genaueren Betrachten erkennt. Ein ungeübtes Auge sieht lediglich den Schmutz, der an deiner Oberfläche klebt.

In den hintersten Winkeln gleich am Ende des Waldes produzierst du die teuersten Uhren der Welt, deren Namen an den Mauern der größten Metropolen leuchten.

Auch wenn ich dich liebe, kann ich dich manchmal nicht ausstehen. Denn deine bescheidene Größe lässt keine Anonymität zu. Dann suche ich das Weite. Muss weg von dir. An Orte, an denen mich niemand kennt.

Doch an denen mir wieder dann bewusst wird, wenn ich mich wieder einmal fremd fühle, dass du es geschafft hast, dass jede Sprache und jede Hautfarbe bei dir seinen Platz hat. Dass Arm und Reich aus demselben Teller essen.

Dann genieße ich es wieder, bei dir zu sein. Mich zu Hause zu fühlen. Bis zum nächsten Moment, in dem ich am liebsten wieder meine Koffer packen würde. Und falls ich dich irgendwann für immer verlassen sollte, würde ich all die lieben Menschen, mit denen ich bei dir wohne, gleich mitnehmen. Und den See. Und die Schlucht. Und die Weinberge. Ach und das Café gleich neben der Post.

© Melissa-Imani 2023-03-28

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