von Anny Baumann
Donnerstag, 30. Oktober 1971
„Frau Baumann! Frau Baumann! Wir brauchen …. eine Unterschrift!“
Im Laufschritt ging es durch den kalten, sterilen Gang zum OP. Von Hektik und quälenden Schmerzen gepeinigt, lag meine Mutter festgeschnallt auf einer harten Liege. Ihr großer Bauch ragte zwischen den Gurten zur Decke. In diesem Moment ging es um Leben und Tod.
Notkaiserschnitt! Meine Mutter erlitt ein Trauma, denn beim Einsetzen des Tubus wurden ihr die oberen Schneidezähne ausgeschlagen. Was für ein Start.
Als Säugling hatte ich eine schöne Zeit. Ich wuchs und gedieh, und die sichtbaren Wunden meiner Mutter verheilten. Doch das Trauma saß tief in ihr.
Wir waren eine kleine Familie, und wenn ich mich zurĂĽckerinnere, war es sehr harmonisch – bis zum 17. Oktober 1973.
Ich wusste es noch nicht, aber an diesem Tag veränderte sich alles in meinem Leben. Mein kleiner Bruder wurde geboren, und alle feierten seine Ankunft.
Meine Mutter erhielt im Krankenhaus einen BlumenstrauĂź vom damaligen Landeshauptmann, und in der Zeitung stand: „Der Nachfolger ist da!“ Zur Geburt schenkte mein Vater meiner Mutter einen funkelnden Diamantring in WeiĂźgold.
Ich war eine stolze zweijährige Schwester und verliebte mich so sehr in meinen Bruder, dass ich über ihn wachte und niemanden an ihn heranließ.
Wir wuchsen im Wienerwald auf, umgeben von Mischwald und einem plätschernden Bächlein.
Doch allmählich wendete sich das Blatt: Ich bemerkte, dass meine Mutter anders mit meinem Bruder umging – auf eine Weise, die mir fremd war. Damals konnte ich es nicht benennen, aber im Laufe der Jahre erkannte ich, dass sie eine tiefere Bindung zu ihm hatte als zu mir.
Ich war schlau und erkannte sehr bald: Wenn ich meiner Mutter half oder sie unterstĂĽtzte, freuten sich Mama und Papa.
Also beobachtete ich genau, was gebraucht wurde – eine Schublade öffnen, etwas aufheben, einfach still sein, wenn Mama nervös war oder es sich wĂĽnschte. Schön artig sein und meine eigenen BedĂĽrfnisse zurĂĽckstellen.
Ist doch eigentlich unvorstellbar, was man als junges Wesen macht, um zu gefallen und sich zugehörig zu fühlen.
Also tat ich es, denn es fiel mir ja nicht schwer, und schlieĂźlich erhielt ich ab und an das, wonach ich so suchte.
So wurde ich zur Expertin darin, die WĂĽnsche meiner Umgebung von den Lippen abzulesen.
Was aus dieser Erfahrung wurde und was es mit der 22/4 aus dem ersten Kapitel auf sich hat, das werdet ihr bald erfahren. Eure Anny
© Anny Baumann 2025-04-17