Asyl

Walter Weinberg

von Walter Weinberg

Story
Wien 1400 – 1680

Am linken Pfeiler des Adlertores am Fuß des unvollendeten Nordturms des Stephansdoms befindet sich der sogenannte Asylring, der vielmehr ein Asylgriff ist! Ursprünglich war der Asylring eine alte Seil- und Umlenkrolle, die für die Errichtung des Nordturms gebraucht wurde, um Lasten hinaufzuziehen. Nachdem die Bauarbeiten am Nordturm vor 500 Jahren aufgegeben wurden, beließ man die überflüssig gewordene Rolle an ihrer Stelle und veränderte ihre Funktion drastisch: Wer aus welchen Gründen auch immer vor Verfolgern flüchten musste und sich an den Asylring klammerte, hatte es tatsächlich geschafft und war sicher vor Problemen und Bestrafung: Der Person wurde umgehend Asyl im Stephansdom gewährt! Im extremen Fall bedeutete diese Regelung auch, wenn einem Verbrecher die Flucht nach seiner Gesetzesübertretung gelang und er den Griff umfasste, durfte er nicht mehr festgenommen werden. Im Mittelalter war das Asyl aber hauptsächlich für hungernde Menschen die befreiende Erlösung vor Bestrafung und Kerker. Wenn jemand von den zahlreichen Marktständen der Stadt aus Not für sich oder seine Kinder Brot oder sonstiges Essbares ohne zu bezahlen entwendete, musste er mit strenger Bestrafung rechnen, die von körperlicher Züchtigung bis zur Inhaftierung reichen konnte. Die Bestrafungen hatten die Situation für Notleidende noch verschlimmert, weil Kinder oft ohne ihre Mütter zurückblieben. Wegen solcher geringen Verstöße gegen die Ordnung aus Not und Mangel wurde vom Babenberger Herzog Leopold V. das Kirchenasyl geschaffen. Die Wiener nennen den Asylgriff bis heute schlicht „Leo“ nach ihrem Stifter Leopold den Glorreichen, der vor allem im letzten Kreuzzug im Heiligen Land zu Ruhm gelangte. Leopold führte das Kirchenasyl gesetzlich ein, das Jahrhunderte unverändert beibehalten wurde. Es scheint verwunderlich, dass daneben an der Nordwand des Stephansdoms eine im Freien stehende Kanzel zu finden ist. Der Franziskanerbruder Johannes Capistran hielt auf der gotischen Kanzel 32 umjubelte Predigten, die er tatsächlich im Freien hielt. Seine Brandreden fanden immer größeren Zulauf. Früher stand die steinerne Kanzel auf einem grünen Hügel gegenüber des Südturms des Stephansdoms. Weil die Stadt immer stärker wuchs, verschwand der Hügel und man versetzte die Kanzel an die äußere Nordwand des Doms. 1453, nach dem Fall des christlichen Konstantinopel (heute Istanbul), der Hauptstadt des Oströmisch-Byzantinischen Reichs, rief Bruder Capistran auf der Kanzel am grünen Hügel die Wiener zu einem neuen Kreuzzug gegen die Osmanen auf. Der Zulauf für die christliche Befreiungsmission des Geistlichen war enorm! Capistran zog tatsächlich mit den von ihm gesammelten Truppen bis Serbien zur eingeschlossenen Stadt Belgrad und trug damit 1456 wesentlich zur Aufhebung der türkischen Belagerung und zur kurzzeitigen allgemeinen Zurückdrängung des osmanischen Heeres bei! Über 200 Jahre später wurde Capistran für seinen wundersamen Erfolg von Papst Alexander VIII. heiliggesprochen, wodurch sich seine Verehrung in Europa massiv verbreitete. Die von Capistran benutzte alte Kanzel wurde renoviert und ein barockes Gedenkmonument für den Heiligen an der Nordwand des Doms errichtet. Die Statue Capistrans steht auf einem gefallenen Türken und ist überhöht von Engeln im Strahlenglanz. Die darüber im Nordturm hängende größte Glocke Österreichs, die Pummerin, wurde übrigens aus den von den Türken in Wien auf ihrer Flucht zurückgelassenen Kanonen gegossen!

© Walter Weinberg 2024-08-30

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Hoffnungsvoll, Traurig, Angespannt
Hashtags