von P-Hildegardsen
Vor Jahren war ich bei einem Workshop, da wurden wir in den angrenzenden Wald geschickt und sollten Bäume umarmen. Ich zweifelte an der Seminarleiterin und an mir selbst. Was für sonderbaren Kurs hatte ich mir da ausgesucht? Weil alle anderen begeistert los stürmten und sich dann rundum mit seeligem Gesichtsausdruck an die diversen Baumstämme klammerten, tat auch ich, wie mir geheißen. Leider waren keine Birken hier. Birken mag ich. Diese schöne glatte weiße Rinde gefällt mir. Also nehme ich halt was anderes. Klar, hier sind Rinnsale vom Harz. Ich werde mich klebrig und schmutzig machen. Muß dann wieder ewig herumputzen, bis die Kleidung sauber ist. Und Ameisen. Diese Viecher werden mich wieder beißen und es wird jucken, ich werde mich blutig kratzen. Was für eine beschissene Idee, hierher zu kommen. Natur habe ich zuhause auch. Und Bäume ebenso. Warum soll ich mir nun ausgerechnet hier einen Baum zum umarmen suchen?!
Ich gebs zu, bei diesem ersten Mal der Baumumarmung hatte ich weder ein inneres erhebendes Gefühl noch sonst etwas, das mir haftend im Gedächtnis geblieben wäre. Weil aber zahlreiche Familienaufstellungen und andere Seminare dieses Baumumarmen immer wieder integrieren, habe ich halt brav mitgemacht. Mich auch einmal hingesetzt, mich angelehnt. Und dann floß es aus mir heraus. Ich schrieb wie besessen in mein Heft. Gefühle, Gedanken, Erinnerungen, Hoffnungen – alles wollte heraus. Und ich konnte spüren, wie mir „mein“ Baum nun Halt gewährte. An seinen Stamm konnte ich mich anlehnen. Sogar seine Wurzeln konnte ich spüren. Es fühlte sich wie in Trance an, so als würden sich Schleier heben. Das Leben im Inneren und im Äußeren spüren.
Manchmal brauche ich halt länger. Und mein Hirn ist immer bereit, alles zu analysieren, zu zerlegen ins kleinste Detail. Übermächtig herrscht es über meine Gefühle, schließlich weiß das Hirn am besten, was die Summe der Lehrsätze, der Erfahrungen und Erlebnisse als Ergebnis hat. Das Hirn will mich schützen, dafür habe ich es ja. Bloß muß es sich nicht immer so aufspielen. Denn ich habe auch Gefühle. Auch wenn die immer wieder in den untersten Keller gesperrt werden. Sie sind da. Sie wollen gesehen und gehört werden. Wenn ich zu lange nicht auf sie schaue, werde ich krank. Liebes Hirn, krank war ich oft genug. Und so seltsam, daß die Ärzte es mir nicht mal richtig erklären konnten. Bloß mit Mediamenten vollstopften.
Meine Gefühle müssen nun nicht mehr zugedeckt oder versteckt werden. Ich weiß schon, daß es noch dauern wird, bis mein Hirn und meine Gefühle sich in Balance halten können, aber auch das wird ein spannender Weg der Entdeckung sein. Ich bin dankbar meinem Baum. Ich bin dankbar all den Bäumen, die mich auf den Weg gebracht haben. Wo mich das herabrinnende Harz nicht schmutzig gemacht, sondern mit Wohlgeruch erfreut hat. Und mich die Ameisen ausnahmsweise nicht gebissen haben. Wo ich mich als Teil der Natur fühlen lernte, die Wurzeln spüren konnte. Liebe Bäume, ich umarme Euch.
© P-Hildegardsen 2019-10-31