Bei Berlin

Tilman Tenschert

von Tilman Tenschert

Story

Zurück aus Hennigsdorf bei Berlin und zu früh dran. Wieder einmal. Es geht über die Treppe hinauf auf den langgezogenen Bahnsteig. In der linken Hand einen zu heißen Grüntee vom Kiosk unten am Eingang. Mit der Rechten den Rucksack auf den Boden stellen. Es ist seltsam frisch für einen Tag im September und eine Sitzgelegenheit ist nicht in Sichtweite. Unschlüssiges Pendeln zwischen Plakatwand und Wagenstandsanzeiger. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bis der Zug zurück nach Hause fährt. Bei Berlin gewesen. Am Bahnhof. Ein erster zaghafter Schluck. Zu heiß.

Es sind diese Momente, die ganz allein den Wartenden gehören; in denen die Gedanken weit weg und sie ganz nah bei sich sind. Eine Geschäftsfrau eilt mit ihrem Rollköfferchen vorüber und hält unweit des leerstehenden Verkaufsstandes inne. Blickt sich um. Irgendwo raschelt eine Zeitung. Eine Taube flattert ein wenig zu dicht, als dass man sie ignorieren könnte, über die Köpfe. Der Blick folgt ihr den schmierig glänzenden Boden entlang in Richtung der Brücke. Dort hinten, jenseits der Havel, beginnt die Stadt. Der Bahnhof als Westeingang. Das metallische Plärren einer der Bahnsteigdurchsagen durchtrennt die Gedanken. „Geänderte Wagenreihung und Verzögerung im Betriebsablauf“. Man kennt das. Zwei Gleise weiter beschleunigt multipel säuselnd ein weißer Expresszug in Richtung Osten. Dort die Treppe, die von der Bahnhofshalle hier herauf führt. Für einen Moment verharrt alles in statischer Eisenbahn-Romantik.

Ein Musiker mit gigantischem weißen Cello-Koffer betritt den Bahnsteig. Sieht sich kurz und müde um. Bleibt stehen und scheint in Gedanken. Auftritt: Der Künstler. Wie auf ein stilles Zeichen hin bezieht er seine Position. Er nimmt Maß. Zückt seinen Stift. Lehnt sich gezielt unscheinbar an die Plakatwand und beginnt sein Werk: Das Blatt auf seinem kleinen Klemmbrett wird flugs zu einer flatterigen Version der gesamten Wartenden-Kulisse. Prüfende Blicke folgen auf präzise gesetzte Striche. Klare Formen werden grob schraffiert. Der Cellospieler steht schon fast. Die Treppe wird nur angedeutet. Dahinter wellenartig die besagte Brücke. Einige körperlose Umrisse. Das Objekt beugt sich nach vorne. Ein Moment der bangen Atemlosigkeit. Er fischt etwas aus seiner Tasche. Unruhe. Erneutes Fokussieren. Doch die Haltung der Figur auf dem Bahnsteig ist erneut identisch zu der bereits auf dem Klemmbrett festgehaltenen. Eine kurze Korrektur am Mantel. Hastige Akzente an den Umrandungen und kleine, spontan verteilte Punkte für den Bodenbelag. Ansatzlos landet das Klemmbrett in einer schmalen Schultertasche und die Suche nach einem weiteren Blickfang beginnt. Aus Osten kommt sirrend eine S-Bahn angerauscht.

Der Cello-Koffer setzt sich in Bewegung und verschwindet in einer ihrer Türen, die sich unter rotem Blinken und wehmütigem Tuten hinter ihm schließen. Der Künstler verlässt den Bahnsteig und geht die Treppe hinunter.

#BerlinSpandau

© Tilman Tenschert 2022-01-22

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