von Roman Scamoni
Ich schaue gerne Fußball. Manche mögen das für ein unsinniges Vergnügen halten, für eine Verschwendung von Lebenszeit. Ich hingegen bin überzeugt: Unsere Welt wäre ein besserer Ort, wenn es mehr so ablaufen würde, wie ein Fußballspiel.
Stellt euch nur vor: Ihr steht beim Bäcker und wartet darauf, bedient zu werden. Ein rücksichtsloser Rüpel drängelt sich vor und will bestellen. Sofort ertönt ein Pfiff – der Schiedsrichter zeigt dem Übeltäter die gelbe Karte und ermahnt ihn streng: „Nochmal so etwas und Sie fliegen raus!“ Die anderen Kunden nicken anerkennend, und der Übeltäter trollt sich kleinlaut ans Ende der Schlange. Doch der Höhepunkt: Eine Videoüberprüfung zeigt später, dass er heimlich einen Marmorkuchen in seiner Tasche verschwinden lassen wollte. Zack – rote Karte, Disqualifikation für die nächsten drei Frühstücke.
Später zu Hause wird mit letzter Kraft der Haushalt angepackt. Da ruft der Trainer von der Linie: „Für dich ist Schluss für heute, du brauchst eine Pause!“ Ein Ersatzspieler wird aufs Feld geschickt, die Fans – vielleicht die Nachbarskinder oder die Katze – verabschieden dich mit Applaus. Die Betreuer klatschen mit dir ab und loben deinen Einsatz: „Super, wie du den Staubwedel geschwungen hast! Wahnsinn, was du mit dem Wischmopp geleistet hast!“ Dein Ersatz übernimmt, und du ziehst dich mit einem isotonischen Getränk – oder einer Tasse Tee -auf die Couch zurück.
Auf der Fahrt mit dem Fahrrad einmal kurz nicht aufgepasst, übel gestürzt – Bein aufgekratzt und Knöchel verstaucht. Sofort eilen ein Sanitäter und ein Physiotherapeut herbei, die Wunde wird versorgt, die Blutung gestillt und der Knöchel mit Kühlspray behandelt. Währenddessen stehen ein paar Zuschauer am Straßenrand und kommentieren die Szene lautstark: „Das sah übel aus – aber sie steht schon wieder! Was für ein Kampfgeist!“ Anschließend applaudieren Zuschauer höflich und die Fahrt geht weiter!
Doch nicht nur Verletzungen, auch Siege verdienen mehr Anerkennung. Erfolgreiche Leistungen im Büro werden nicht einfach als selbstverständlich genommen – sondern gebührend honoriert. Eine große Tafel im Aufenthaltsraum zeigt die Erfolgserlebnisse: „Projekt ‚Q4-Analyse‘ erfolgreich abgeschlossen! 20 Punkte für das Team!“ Die Menge – bestehend aus Kollegen und einer unerklärlich enthusiastischen Reinigungskraft – jubelt. Nach dem Tag im Job stehen die Fans, in diesem Fall der Praktikant und vielleicht dein Chef, an, um Autogramme zu bekommen. Es wird sogar ein kleiner Pokal überreicht, der in der Firmenküche als Trophäe ausgestellt wird.
Ach, und wenn’s mal nicht so gut läuft? Kein Problem. Der Trainer hält eine aufmunternde Halbzeitansprache: „Ihr müsst euch nichts vorwerfen. Klar, der Bericht war suboptimal – aber das Spiel hat noch eine zweite Hälfte! Auf gehts, Leute. Das Spiel ist noch nicht gelaufen!“
Ich schaue gern Fußball!
Bild von Tookapic (Pixabay.de)
© Roman Scamoni 2024-12-04