Bin ich pervers?

Maria Büchler

von Maria Büchler

Story

Ich glaube, ich bin pervers. Nein, regt euch wieder ab, es ist weder etwas Schlechtes noch Unmoralisches, es ist weder illegal noch macht es dick. Man kann darüber sprechen und muss es vor Familie und Freunden nicht geheim halten. Es ist sogar für jedes Alter geeignet. Es ist – wie soll ich nur sagen… Es ist kompliziert.

Den Perversen, die sich strafbar machen, sieht man ihre Abartigkeit meist gar nicht an. Mir sieht man sie hoffentlich schon an, zumindest alle paar Wochen. Es ist so: Ich gehe gern zum Friseur.

Warum das pervers ist? Weil ich nur Menschen kenne, für die ein Friseurbesuch unangenehm ist. Ich bin wohl die Einzige, die es genießt, ihren Kopf kundigen Händen anzuvertrauen. Am liebsten jeden Tag.

Deshalb muss ich wohl pervers sein, denn das Wort bedeutet andersartig. Wenn wir es benutzen, dann im negativen Sinn in Verbindung mit etwas Unmoralischem. Meine Widernatürlichkeit hingegen ist harmlos und kommt nicht oft zum Einsatz, denn sie läuft ins Geld.

Einer meiner Haarkünstler war zugleich der Präsident eines Vereins, dem ich vor 35 Jahren angehörte. Zwar brachte er mein Haar nicht selbst in Form, doch war er oft im Salon und kredenzte mir jedes Mal ein Glas Prosecco. Damit ich trotz Haarfarbe oder Lockenwickler noch vorzeigbar aussah, schminkte ich mich vor jedem Besuch sorgfältig. Alle anderen Damen taten das auch.

Damals trug ich einen dunklen Afro. Als ich seine Kundin wurde, riet er mir davon ab und ließ einen Bob schneiden. Eine blonde Strähne krönte den neuen Look. Das gab einen Aufruhr! Kurz danach war nämlich Schulschluss, und die Mütter meiner Schüler kamen zur Zeugnisverteilung. Missbilligende Blicke und Getuschel noch und noch. Wie das aussieht! Wie kann sie nur! Ts ts!

Als ich begann, einen Motorradhelm zu tragen, brauchte ich eine praktische Frisur und ließ die Haare wachsen. Doch mit dem Ende meiner Zeit als Sozia steckte ich das Haar gern hoch. Wenn eine Friseurin das Gebilde schuf, überstand es meist mehrere Nächte. Doch, man kann damit schlafen.

Jetzt liegt mein Salon ganz in der Nähe. Gleich beim ersten Mal wurde ich von der Friseuse Yvonne ausführlich mit Klatsch bedient. Innerhalb kürzester Zeit kannte ich meine neue Nachbarschaft besser als mich selbst. Sie offenbarte mit dem Ausbreiten ihrer eigenen Vita, dass es möglich ist, als ausgebildete Sekretärin die verschiedenen Haarschnitte „by doing“ zu learnen, sorry, zu lernen. Auch das war mir neu.

Ihre Kollegin Beate dagegen ist eine Meisterin bei den Hochsteckfrisuren. Mit Begeisterung tobte sie sich an meinen hüftlangen Strähnen aus. Wenn ich zur Tür hinausschritt, fühlte ich mich immer wie eine Königin.

Vor Weihnachten 2021 ließ ich mir eine 10 Zentimeter-Frisur schneiden. Schweigsam kam Beate meinem Wunsch nach. In ihrer Miene war zu lesen: „Schade um die schöne Länge! Das ist doch abnormal! Sowas von pervers!“ Die Chefin warf entsetzte Blicke auf die Haarbüschel am Boden.

Als ich nach Hause ging, sah das Personal mir stirnrunzelnd nach.

© Maria Büchler 2022-10-13