Brillenschlange

Araldo Campana

von Araldo Campana

Story

“Brillenschlange, Brillenschlange!”, rief ich dem Dietmar nach. Ein Akt der Rache. Er war stärker, hatte mich geschlagen. Mit Tränen in den Augen lief ich davon, wissend, diese Schmähung würde Folgen haben …

Dietmar war fehlsichtig. Er trug eine Krankenkasse-Hornbrille. Wenn du damals in den siebziger Jahren arm und fehlsichtig warst, dann hat man das auch in deinem Gesicht gesehen. Kontaktlinsen gab es noch nicht. Die gab es erst später, und dann waren sie sauteuer noch dazu. Diese elenden Krankenkassenbrillen jedenfalls “taten nichts” für ein gutes Aussehen, würde heute Guido Maria Kretschmer lakonisch feststellen.

Reihenuntersuchung. Die Schulklasse versammelte sich in der Bibliothek der Schule. Bis auf die weiße Feinripp-Unterhose mit Gelbverfärbungen im Eingriff ausgezogen stand ich in der Reihe der wartenden Mitschülerinnen und blickte mit vor Kälte schlotternden Gliedern bang in Richtung der Sehtest-Tafel, die unterhalb vom Kruzifix an der Wand angebracht war.

“Campana!” Ich trat vor und stellte mich vor den Arzt. Die Größe wurde genommen, das Gewicht mit einer Waage festgestellt und mit dem Stethoskop Brust und Rücken abgehorcht. “Husten!” Passt.

Dann drückte er mir die kalte Armbanduhr an mein Ohr und fragte: “Und? Hörst du was?” Ich antwortete wahrheitsgemäß mit ja, denn ich hatte tatsächlich ein Ticken vernommen. Dabei dachte ich mir: Wenn ich nichts hören würde, würde ich auch ja sagen, nur um den Arzt nicht zu enttäuschen. Das war ja wie eine Prüfung, und die wollte ich bestehen, klar doch.

Jetzt “Aaah” sagen, die Zunge rausstrecken. Der Holzspatel drückte die Zunge nieder. Beinahe hätte ich gekotzt, doch schon war der Spatel wieder weg und landete in einem Behältnis bei den anderen.

Dann kam der gefürchtete Moment. In etwa sechs Meter Entfernung stand ich mit zugehaltenem rechten Auge vor der Sehtafel. Lies mal die erste Zeile vor. “E, 6.” “Gut, jetzt die zweite Zeile”, forderte mich der Arzt auf. Verdammt! Ich konnte nichts sehen. “B, 8”, las ich vor, das hatte ich mir von den Schülern vorher gemerkt. Sehen konnte ich nichts. Beide Zeichen sahen für mich völlig gleich aus.

“Weiter, nächste Zeile”, hörte ich die Stimme des Arztes. Alles war verschwommen, keine Chance, das irgendwie entziffern zu können. “G, M, 3, 8?”, las ich unsicher vor. Der Augenarzt hob die linke Augenbraue. Am Ende der Untersuchung bekamen einige von uns einen kleinen Zettel mit. Bei mir stand darauf, dass ich zum Augenarzt gehen musste. “

Die Krankenkassenbrille ersparten mir meine Eltern. Wir holten die Brille ab. Wow! So sieht also die Welt aus! Gestochen scharf konnte ich auf einmal die Schriftzüge in den Straßen lesen. Alles in HD! Ups, dieses Wort gab es damals noch nicht. Zwar wurde mir am Beginn schwindelig, doch das legte sich. Jetzt war ich auch eine Brillenschlange, doch eine, die zumindest gut sehen konnte!

© Araldo Campana 2021-10-24

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