Bunte Vögel und Papierdrachen

Alina Bex

von Alina Bex

Story

Es ist einfach, Menschen für ihre Entscheidungen zu verurteilen. Als mein Vater zum Rocker wurde, war das kein Zufall. Er hatte jahrelang darauf hingearbeitet, die Aufmerksamkeit des Clubs zu erlangen. Die Szene, die Atmosphäre, das Martialische, Brüderliche, all das faszinierte ihn und lockte mit Erfahrungen und Versprechungen, die es in seinem Alltag nicht gab. Irgendwo hatte sich im Laufe der Jahre eine Lücke aufgetan, mitten in seiner Brust. Und er suchte nach einem Weg, diese Lücke zu schließen.

Mein Vater hatte schon immer Spaß daran gehabt, aus der Reihe zu tanzen. Er ist ein intelligenter und gebildeter Mann, neugierig bis in die Haarspitzen und tätowiert von Kopf bis Fuß. Auf seiner Haut tummeln sich bunte Vögel und tropische Pflanzen, sogar Schmetterlinge und Fische. Er ist eine laufende Leinwand, ein kreativer und unverschämter Kopf.

Ein Auto, nach dem sich alle den Hals verdrehen? Auf jeden Fall.

Auf Inlinern in die Kirche fahren? Unbedingt.

Dem Nachbarn Hundescheiße in den Briefkasten stecken? Ein Muss.

Dem nächsten Nachbarn den Briefkasten mit Böllern sprengen? Ein Heidenspaß.

Die einzigen Grenzen, die er jemals erfuhr, setzt ihm meine Mutter. Sie kennen sich aus alten Biker-Zeiten. Waren gemeinsam in eine Kneipenschlägerei verwickelt, sind verurteilt wegen Landesfriedensbruch und er hatte sich damals ritterlich mit ihrem Freund geprügelt, um ihr Herz zu gewinnen. Zwischen meinen Eltern herrscht eine tiefe Liebe, die Freuden und Gräben durchlaufen hat. Sie sind Partner und Streithähne und mit ihren Sticheleien manchmal sehr anstrengend.

Meine Mutter fand ein sehr passendes Bild für ihre Beziehung. Sie teilte es mit mir, da war ich ungefähr zwölf Jahre alt und dachte noch, die Liebe sei ein Ponyhof.

„Mit deinem Vater ist es so“, sagte sie. „Er ist wie ein bunter, flatternder Papierdrache. Er will hoch in den Himmel steigen, immer höher und höher. Er dreht sich dabei wild um sich selbst, verheddert sich fast in der Schnur. Die Schnur ist unsere Verbindung. Denn ich stehe auf dem Boden und halte diese Schnur fest. Wenn ich ihn loslasse, dann trudelt er davon. Vielleicht fliegt er in die Sonne. Oder zum Mond, wer weiß das schon. Ich halte ihn auf einer sicheren Bahn, aber manchmal finde ich es anstrengend, die Schnur zu halten. Vielleicht würde ich auch gerne einmal fliegen. Aber wie, wenn ich ihn halten muss?“

„Aber ihr habt euch lieb?“, fragte ich.

Meine Mutter lächelte. „Natürlich haben wir uns lieb. Er liebt mich dafür, dass ich ihn festhalte. Aber manchmal kämpft er darum, loszukommen, obwohl er weiß, dass das sein Verderben wäre.“

„Dann ist es ja gut“, sagte ich.

© Alina Bex 2023-08-10

Genres
Biografien
Stimmung
Abenteuerlich, Herausfordernd, Dunkel, Komisch, Hoffnungsvoll
Hashtags