von Ulrike Sammer
Eine der Wechsel-Klientinnen in meiner psychologischen Praxis beklagte sich darüber, dass sie sich in der Öffentlichkeit als unsichtbar erlebte. Daraufhin beobachtete ich, wie das bei mir auf der Straße sei. Ich konnte die Erlebnisse meiner Klientin absolut bestätigen. Wenn ich mich als junge Frau darüber ärgerte, dass die Arbeiter auf den Baustellen mir nach pfiffen, erlebte ich das in meinem Alter nie mehr. Auch die damals unverschämten und demütigenden Blicke bleiben aus. Nun – die Zeiten haben sich geändert und es wird Frauen generell (ein bisschen) mehr Respekt gezollt.
Ich gestehe aber: Irgendetwas geht mir schon ein wenig ab. Auf dem Gehsteig oder in der Straßenbahn bin ich wie aus Luft. Blicke gehen an mir vorbei, es wird mir keinerlei körperliche Beachtung geschenkt. Na gut, ich kleide mich auch sehr dezent.
Ich habe sicher ein Stück Jugendlichkeit verloren. Es macht nicht gerade froh zu erleben, wie sich die Körperformen und das Gewebe langsam verändern. Auch ich muss von Zeit zu Zeit mein ganzes Selbstwertgefühl zusammen nehmen um nicht in diesen Jammerchor vieler Mitteleuropäerinnen und Amerikanerinnen über die Falten und die Figur einzustimmen. Aber da ich es prinzipiell erbärmlich finde, wenn man seine Identität und seine Fraulichkeit nur an ihrem Aussehen festmacht, half mir diese Einstellung, mich zum Teil neu zu orientieren. Ich habe eine Reihe von Erfahrungen gemacht, die nicht gerade angenehm waren. Aber da ich Erfahrungen, gleich welcher Qualität, als Bereicherung ansehe, konnte ich sie gut annehmen. Ich habe Verlagerungen erlebt: Z.B. wird mir zwar weniger körperliche Beachtung geschenkt als früher, dafür bekomme ich ein gewisses Maß an intellektueller Akzeptanz. Das ist immerhin auch etwas!
Ich habe erfahren, dass man auf einer ganz anderen Ebene auch einiges bewirken kann. Das ist ohne Zweifel das große Geschenk meiner vergangenen Jahre. Ich habe körperliche Spannkraft verloren und intuitive Kraft gewonnen. So habe ich jetzt einen noch besseren Zugang zu den inneren Bildern und Botschaften, die aus meinem Unterbewussten steigen, gefunden.
Ich habe sicher auch einen besseren Umgang mit dem Unabwendbaren und mit der eigenen Hilflosigkeit erworben. Die Einsicht, dass nicht alles jederzeit machbar ist, sondern dass man manchmal zurückstecken und manchmal warten können muss, erachte ich als einen Gewinn und nicht als eine Art Resignation. Es war eine Zeit des körperlichen und seelischen Wandels, aber vor allem eines geistigen. Ich ging Schritt für Schritt von außen nach innen und begegnete immer häufiger meiner Intuition.
Sie war schon immer da gewesen, hatte mich wie ein Schatten begleitet. Aber ich hatte mich in den früheren Jahren selten zu meinem Schatten umgedreht.
So glaube ich wirklich, dass eine Frau, die durch alle Tiefen des Wechsels gegangen ist und dabei ihre neuen Chancen wahrnimmt, ein großes Stück reifen kann.
© Ulrike Sammer 2022-06-24