von Natalie Meyer
Ich blickte auf seine Hände. Auch wenn sein Charakter und sein Verhalten sich seit dem Tod seiner Geliebten so verändert hatten, dass ich ihn kaum wiedererkannte, so waren die Hände doch gleich geblieben. Alt, weiß, faltig. Mit braunen Leberflecken übersäht. Hornhaut an den Knöcheln von Jahren auf dem Bau. Wunderbar weiche Haut in den Handinnenflächen. Ich strich darüber. Wieder und wieder. Ich wagte nicht in sein altes Gesicht zu blicken, das in letzter Zeit so mager geworden war. Der Tod hatte ihn bereits gekennzeichnet. Die Lippen schmaler gemacht, die Augen ohne Glanz. Nur die Hände. Die hatte er noch nicht für sich einnehmen können. Die würden bleiben bis zum Schluss.
Wie er früher immer meine Hand in seine genommen hatte als Kind und auch noch als Teenager. Dann war er mir nah gewesen. Näher als seine Worte es jemals waren. Seine stets geschnittenen Fingernägel. Es war nur ein dünner weißer Strich zu erkennen. Ansonsten nur das ockerfarbene Nagelbett. Ob die Pflegerinnen sie ihm geschnitten hatten? Glatt, ohne die weißen Flecken, die angeblich auf Mangelernährung hinweisen. Geradezu perfekt. Sie würden jeder Frau gefallen. Obwohl sie ungewöhnlich groß waren. Sie nahmen sehr viel Platz auf den langen wurstigen Fingern ein. Die Hand zuckte. Für einen kurzen Augenblick waren blaue Linien zu erkennen. Adern. Ich wachgte nicht ihn anzusehen und drehte stattdessen die Hand vorsichtig um und betastete die Innenflächen. Verfolgte mit den Fingerspitzen die Linien. Ja. Weich wie in all den Jahren. Es war mir eine Stütze. Diese Berührung der mir so vertrauten Hände. Vielleicht hatte ich ihn verloren. Nicht jetzt, da er im Sterben lag. Schon vor Jahren. Seine Hände aber waren geblieben. Hatten mich an unsere Verbindung erinnert. Der große unübersehbare Fleck am linken Daumen. Kein Muttermal, kein Alters- oder Leberfleck. Ein Erbmal. Im Gegensatz zu meinem war sein Mal übersäht von Hornhaut und kleinen dunkelbraunen Pickelchen. Wir hatten uns nie oft umarmt oder Küsschen ins Gesicht gegeben. Wenn er bemerkt hatte, dass mich etwas bedrückte, streichelte er über meinen Handrücken. Minutenlang. Beharrlich. Ein Händedruck als Gratulation drückte bei unseren Händen, die durch das Erbmal miteinander verbunden zu sein schienen.
Und so wusste ich auch, dass ich nichts zu sagen brauchte. Ihn nicht anzusehen brauchte. Ich musste nur seine Hand halten. Sie festhalten, sie betrachten. Und sie festhalten, bis er alles überstanden hatte. Die Hand würde kalt werden. Aber das Erbmal würde bleiben, ein weiteres Leben lang.
© Natalie Meyer 2022-08-31