Das Fernglas

Sylvia Zemlyak-Böhm

von Sylvia Zemlyak-Böhm

Story
Kroatien Trogir 2024

Wenn der Körper die Folgen der Vernachlässigung, die er in den letzten Monaten erlitten hat, einfordert, geschieht dies oft zu einem ungünstigen Zeitpunkt. So ergeht es mir auch diesmal. Die Tage vor unserem lang ersehnten und sorgfältig geplanten Urlaub sind mit zahlreichen Aufgaben ausgefüllt. Als mein Mann und ich in unser bis zum Rand mit Reisegepäck gefülltes Auto einsteigen, überkommt mich ein schweißtreibendes Gefühl der Hitze. Ich schiebe es zunächst auf unsere lebhafte Diskussion darüber, ob wir auch das alte Fernglas mitnehmen sollten, das ich für nicht wirklich notwendig halte. Letztendlich landet es doch im Koffer. Auf dem Weg an die Küste wächst unsere Vorfreude mit jedem Kilometer. Nach mehreren Stunden Fahrt parken wir vor unserem Quartier. Aufgeregt springe ich aus dem Wagen. Wie ein Kind sauge ich all die Eindrücke um mich herum auf: die salzige, nach Fisch duftende Meeresluft, der strahlend blaue Himmel, die Fischerboote im Hafen und das bunte Treiben an der Strandpromenade. Und dann erblicke ich es: unser temporäres Zuhause, ein über fünfhundert Jahre altes Steinhaus direkt am Hafen, dessen Fenster einen fantastischen Blick auf das Meer bieten. Als wir eintreten, sind wir überwältigt. Es fühlt sich an, als hätten wir einen neuen Ort gefunden, an dem wir uns niederlassen können. Im Erdgeschoss erwartet uns ein großzügiges Esszimmer mit einem kleinen Balkon, von dem aus man die Umgebung bewundern kann. Dazu eine kleine, aber perfekt ausgestattete Küche. Breite Holztreppen führen uns in das Obergeschoss, wo uns ein geräumiger, sonnendurchfluteter Raum erwartet. Vier Fenster, eine große Couch und ein überdimensionales Bett bieten den perfekten Rahmen. Glücksgefühle durchströmen mich.

An meinem ersten Urlaubstag wache ich jedoch mit Fieber und Halsschmerzen auf, obwohl ich mir fest vorgenommen habe, mich endlich zu erholen. Danke, liebes Universum, ich glaube, wir werden in diesem Leben keine Freunde mehr. Glücklicherweise bietet mir die Unterkunft einen atemberaubenden Blick auf das Meer in Richtung Hafen – sozusagen die erste Reihe fußfrei. Trotz meiner Beschwerden beschließe ich, das Beste aus dem Tag zu machen. Ich lasse mich nicht entmutigen und beobachte die Schiffe, die kommen und gehen. Das zunächst ungeliebte Fernglas wird zu meinem treuen Begleiter. Gemeinsam erleben wir eine aufregende Zeit. Mein Tag verläuft spannend, unterbrochen von regelmäßigen Nickerchen. Irgendwie fühle ich mich in meinem Element, fast wie ein Privatdetektiv. Eingekuschelt in eine warme Decke, gut versorgt mit Essen und Getränken, verfolge ich die verschiedenen Szenarien. Ein bisschen Hafenkino. Segelyachten, Bootstaxi, Ausflugsschiffe, Kreuzfahrtschiffe und Fischerboote verlassen den Hafen. Besonders beeindruckt bin ich von dem Fischerboot, das direkt vor unserem Fenster anlegt. In strahlendem Blau und Weiß gestrichen. An Deck sind Netze und Kühlschränke, die für den nächsten Fischzug vorbereitet werden, um in der frühen Morgendämmerung auszulaufen, während die Sonne langsam aufgeht und den Himmel in sanfte Pastellfarben taucht. Die Vorfreude auf den Fang des Tages, das Warten auf die ersten Bewegungen im Netz- all das spüre ich, während ich ihnen zuschaue. Das Rauschen der Wellen und das Geschrei der Möwen bilden dazu eine symphonische Kulisse. Das Meer besitzt magische Kräfte.


© Sylvia Zemlyak-Böhm 2024-10-04

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Unbeschwert
Hashtags