von Laura Moretti
D A M A L S
Grimmig starrte ich auf die Tafel, während ich den Bleistift zum wiederholten Mal in meiner Hand drehte. Ich kritzelte irgendetwas auf den Tisch, als mich meine Lehrerin dazu aufforderte, zur Tafel zu gehen. Ich schluckte kurz und mein Herz rutschte mir in die Hose. Still ermahnte ich mich, dass ich sechzehn war und es echt nicht nötig hatte, mir so in die Hosen zu machen. Aber ich bekam Angst. Es war so leise, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können und ich schritt langsam auf die Tafel zu. “Alors”, sprach sie mich auf Französisch an, “Tu me peux dire les pronoms réfléchis?” Ich nickte stumm und zählte mit piepsiger Stimme auf: “Me, te, nous, vous,…” “No, No, No, Emma”, unterbrach sie mich sofort, “Die rückbezüglichen Pronomen. Les pronoms réfléchis.” Die Klasse brach in Gelächter aus. Idioten. Ich ärgerte mich. Ich beherrschte Französisch wirklich gut, bloß durch meine Nervosität brachte ich alles durcheinander. Ich traute mich nicht, meine Mitschüler anzusehen, sonst wurde ich noch rot. Also riss ich mich zusammen und zählte diesmal die richtigen Pronomen auf.
“Très bien, Emma”, lobte sie mich und notierte etwas. Nun sah sie wieder in die Klasse. “So meine Herrschaften, da niemand außer Emma die rückbezüglichen Pronomen aufzählen konnte, schreibt ihr mir diese fünfmal als Hausaufgabe auf und lernt sie NOCHMAL bis Dienstag.” Kollektives Aufstöhnen. Und Sam, der mich so oder so nicht mochte, warf mich beim Vorbeigehen mit einer Papierkugel ab und zischte: “Scheiß Streber. Wegen dir bekommen wir wieder mal Hausaufgaben. Warum kannst du nicht einmal COOL sein?” Ein paar seiner Freunde pflichteten ihm bei und drehten die Augen in meine Richtung über, während ich gekränkt meine Sachen packte.
Die Klingel ertönte und die Lehrerin war bereits gegangen, als Fred, der beliebte und sportliche Junge der Klasse, aufstand und zu mir ging. Kurz vor mir blieb er stehen. Ich hatte keine Ahnung, was er vorhatte, aber die Nähe war mir unangenehm, also drehte ich mich weg. Angewidert sah er mich an und sagte schließlich: “Jasmin meinte, dass ich dir mal erklären soll, wie gesunde Ernährung funktioniert. Sie meinte, du hättest da ein Problemchen.” Ich stöhnte. Dieses verdammte Miststück! Vor ein paar Tagen fragte mich Jasmin nämlich einmal, als sie mich beim Weinen in der Umkleide erwischte, was los sei, aber ich antwortete nicht, bis sie schwor, niemandem etwas zu sagen. Ich vertraute ihr an, dass Sam mich “Dickerchen” genannt hatte und ich doch sowieso unzufrieden mit meinem Körper war. Und sie hatte mich verraten. Fred deutete mein Schweigen als stille Übereinkunft und erklärte mir weiter, dass es echt notwendig wäre, mal “ein bisschen weniger” zu essen.
Und ein Jahr später, als ich im Krankenhaus lag, weil ich aufgrund des Untergewichts zusammengebrochen war, träumte ich von ihm. Von ihm und den anderen, die meinen Körper abgewertet hatten.
In dieser Nacht wünschte ich mir, irgendwann wieder ohne Angst essen zu können.
© Laura Moretti 2022-08-19