Das Großvater-Paradoxon

Mittag_wie_Frühstück

von Mittag_wie_Frühstück

Story
Rostocker Psychiatrie 2024

Zeit. Trotz mangelnder Analyse ihrer komplexen Beschaffenheit wird sie von vielen Menschen verstanden und mit der „Wann?“-Frage umschrieben. Diese primitive Definition genügt einigen Artgenossen wiederum nicht, weshalb sie sich auf einen intensiven Kampf mit der Zeit selbst einlassen und versuchen, sie totzuschlagen. So erging es zumindest Günther, dessen grenzenloser Verstand unerträglich schmerzhafte Ausmaße angenommen hatte, sodass er sich wünschte, nie geboren worden zu sein. In einer Rostocker Einrichtung für Suizidgefährdete errechnete er den Schlüssel zur Zeitreise, beschaffte entsprechende Chemikalien, die er allesamt während seines wöchentlichen Besuchs im Krankenhaus entwendete, und beschloss, in der Zeit zurückzureisen, um seinem Großvater die Kehle aufzuschlitzen. Bei seinem Versuch, durch die Raumzeit zu reisen, verursachte er einen örtlichen Stromausfall, von dem er verschont blieb, da sein Versuch Erfolg erwies. Günther fand sich in einem dicht besiedelten Häuserviertel vor und schaute auf die Visitenkarte, wo die Hausnummer seines Opas markiert war: Nummer 69. Guten Gewissens klopfte er an der entsprechenden Tür. Ein älterer Herr weißen Haares öffnete sie knarzend.
Opa: „Verschwinden Sie, ich will nichts kaufen!“
Günther: „Nein, aber etwas stornieren? Und zwar mich? Wenn ich mich vorstellen dürfte…“
Opa: „Ne, dürfen Sie nicht. Hauen Sie jetzt ab!“
Günther: „Okay, spielt sowieso keine Rolle. Wenn ich Sie erst einmal vom Leben befreit habe, werden Sie sich keinen Kopf darum mehr machen müssen, da Ihr Kopf, abgetrennt von dem Rest Ihres Körpers, auf dem Boden verbluten wird. Sind Sie nun bereit, zu sterben?“
Opa: „Nein! Ich weiß nicht einmal, wer Sie sind und warum Sie mich grundlos töten wollen.“
Günther: „Deshalb stellte ich mich anfangs vor, aber Sie ließen mich nicht! Drum tue ich es nun: Ich bin Ihr Enkel. Dafür verfluche ich Sie. Mein Dasein ist eine Schande, die ich durch Ihre Ermordung revidiere. Na, einverstanden?“
Opa: „Keinesfalls! Mord resultiert nicht aus der besten Lösungsmöglichkeit Ihres Problems! Es hätte die Aufforderung an mich genügt, während der Zeugung Ihres Vaters zu verhüten.“
Günther: „Wie sähe denn dies in den Wissenschaftsbüchern aus? Ich will nicht in die Geschichte als Zeitreisender eingehen, der sich das Leben genommen hat, indem er den Geschlechtsverkehr seines Großvaters kontrollierte. Ein Tötungsdelikt klingt viel ansprechender.“
Opa: „Wenn Sie mich aus der Welt der Lebenden löschen, wer wird sich dann an Sie erinnern? Sie werden nie geboren worden sein. Das bedeutet, niemand kommt, um mich zu töten, was Ihre Existenz allerdings ermöglicht…“
Günther: „Es ist ein Teufelskreis, ich weiß. Annahmen belegen aber, dass unser Universum aus verschiedenen Zeitlinien besteht und ich mit Ihrer Ermordung eine neue öffne, während die alte unverändert bleibt. Klasse, nicht wahr?“
Opa: „Wenn ich Sie richtig verstehe, leben Sie nach Ihrem Anschlag auf mich in Ihrer Zeitlinie weiter und gelangen nicht zu Ihrem Ziel, raumzeitlichen Selbstmord zu begehen. Wozu also dieser verdammte Unsinn? Überhaupt: Müssten Sie nicht weiter in der Zeit zurückreisen, als Ihr Vater noch nicht geboren und ich ein Jungspund war? Vielleicht sind Sie gar nicht durch die Zeit gereist, sondern einfach nur dieser gesuchte Irre, der durch ein gesprengtes Loch in der Psychiatrie entkam! So ein dummer Mensch! Wenn Sie mein Enkel sein sollen, erschieße ich mich lieber selbst.“ Das tat der Alte auch. Günther betrachtete die Visitenkarte, und sagte: „96! Ich hatte wohl einen Zahlendreher!“

© Mittag_wie_Frühstück 2024-06-06

Genres
Humor& Satire
Stimmung
Komisch, Informativ