Das Klassentreffen

Waltraud Wohlmuth

von Waltraud Wohlmuth

Story

Es ist ein sehr kalter Samstagnachmittag. Ich gehe, nein, eigentlich laufe ich in Richtung Schule. Es ist ein eigenartiges Gefühl, das mich übermannt. Diesen Weg habe ich vor 40 Jahren täglich zurückgelegt, oft bin ich den Feldweg hinuntergelaufen, um zu Beginn des Unterrichts in der Schule zu sein. Wie glücklich war ich, als ich vor 40 Jahren mit dem Maturazeugnis in der Hand die Schule hinter mir lassen konnte.

Viele Jahre später bin ich an zahlreichen Elternsprechtagen hier gewesen, um mich über die Lernerfolge oder Misserfolge meiner Kinder zu informieren.

Ich wollte diesen Weg heute zu Fuß bestreiten, ich wollte mich noch einmal so fühlen wie damals, als ich als junges Mädchen atemlos das Schulgebäude kurz vor dem Gong betreten hatte.

40 Jahre, was hat das Leben in dieser Zeit aus uns gemacht? Wie viele Schicksalsschläge hat jeder bereits auf sich nehmen müssen? Wie viele Momente der Freude, des Glücks, des Erfolgs, der Hoffnung, aber auch der Angst, der Einsamkeit, der Trauer haben sich über uns gelegt.

Der Weg erschien mir diesmal kurz, sogar sehr kurz. Ich werde doch nicht die erste sein, die sich zu diesem Treffen einfindet? Doch langsam erfüllt ein Stimmengewirr die Eingangshalle. Immer mehr Personen, die ich vielleicht beim ersten Blick nicht erkenne, trudeln ein. Man umarmt sich, kann es kaum glauben, wie sehr sich die anderen verändert haben. Ich weiß, dass auch ich selbst vom Leben nicht verschont geblieben bin. Die unbeschwerten Jahre der Jugend, die Liebe, das Berufsleben, der Alltag, das Abschied nehmen von geliebten Menschen, all das scheint im Moment vergessen zu sein.

Der Weg, der einen schon so weit von sich entfernt hat, scheint jetzt wieder in die richtige Richtung zu steuern.

Es sind auch einige Lehrer zu dem Treffen gekommen. Der ehemalige Philosophieprofessor ist ausgestattet mit der Klassenliste von damals und macht neben jedem und jeder Anwesenden ein Häkchen. Scheint die Welt doch stehengeblieben zu sein? Der ehemalige Direktor führt uns durch die Schule und überhäuft uns mit lustigen Anekdoten. Das anschließende, gemeinsame Essen im nahe gelegenen Restaurant verläuft angenehm bei gutem Speis und Trank.

Natürlich wird es wieder ein Klassentreffen geben. Man will sich umarmen und in beinahe jugendlicher Frische in den Händen halten. Man will noch einmal das Gefühl in sich tragen, jung zu sein, im Herzen jung, offen für das Leben und darauf hoffen, dass die Welt sich noch weiter dreht auch in den nächsten 40 Jahren.

© Waltraud Wohlmuth 2022-09-26

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