Das Lebensrad

JWK

von JWK

Story

Als ich auf einer Bulgarienreise im Jahre 2005 inWeliko Tarnowo in einen Laden kam, in dem wunderschöne Ikonen ausgestellt waren, war meine Empörung groß. War doch mitten unter den christlichen Kunstwerken ein Objekt, das, meiner Meinung nach, eindeutig aus einem buddhistischen Kulturkreis stammte. Ich bin gerne in buddhistischen Ländern, aber diese Mischung von Religionen gefiel mir nicht. Eine ArtThangka unter Ikonen?

Im Mittelpunkt der Ikone eine Sonne umgeben von mehrfachen konzentrischen Kreisen. Im äußersten Ring hielten sich Menschen mühevoll fest. Darüber saß klein, aber machtvoll, ein König mit zwei fliegenden Gestalten an seiner Seite und darunter öffnete sich ein riesiges Maul. Im unteren Teil rechts und links je ein Engel. Ich konnte mit diesem Bild überhaupt nichts anfangen. Was sollte diese „fremde“ Thematik in einem Ikonengeschäft?

An diesem Nachmittag folgte aber eine weitere Überraschung. Es war für mich wie eine „Bekehrung“. Wir besuchten ganz in der Nähe das Dorf Arbanassi und kamen zu zwei Kirchen. Sie wurden wegen der langen osmanischen Herrschaft wie Scheunen und vertieft in die Erde hinein gebaut. Drinnen aber eine Fülle von Ikonenmalereien von unschätzbarem Wert.

Und da stand ich plötzlich vor der im Laden am Vormittag als buddhistisch eingestuften Ikone. Das Original fixierte mich in wahrer Größe selbst in der Dunkelheit der Kirche. Ich bat den Reiseleiter um Klärung meiner inneren Irritation. Er versuchte es, soweit es ihm möglich war. Heute, mit etwas mehr Wissen, staune ich noch immer über diese Thematik, die ich nirgendwo sonst gefunden habe.

In der Mitte der Scheibe, des Rades strahlt die lebenspendende Sonne. Um sie fügt sich der Kreislauf des Jahres. Im innersten Ring sind die vier Jahreszeiten zu erkennen. An diesem fügt sich ein Ring mit den zwölf Tierkreiszeichen an. Dann der Ring mit den zwölf Monaten. Und außen am Rad halten sich Menschen an, die von links unten im Uhrzeigersinn beginnend immer älter werden, bis sie unten in das große Hades-Maul fallen. Zwei Engel halten mit ihren Seilen das Rad des Lebens in Bewegung. So kommen die Menschen auch am Richterstuhl Gottes vorbei.

Leider führte der Weg nicht mehr am Ikonenladen vorbei. Aber als der Dezember kam, hielt ich es nicht mehr aus. Über das Internet versuchte ich zum Kunstschaffenden Rashko Bonev Kontakt aufzunehmen. Ich kannte nur den Namen. In Russland fand ich einen Schüler von ihm, der mich über eine Deutschlehrerin in seiner Nachbarschaft in Verbindung brachte. Mein Wunsch, „Das Lebensrad“ zu mir zu holen, kam an. Da er natürlich eine Bezahlung im Voraus verlangte, zögerte ich ein wenig. Zu Weihnachten war die Ikone trotzdem noch nicht da. Umso größer war die Freude, als in der Woche darauf ein Paket aus Bulgarien einlangte. Seitdem hängt das Lebensrad in unserem Vorzimmer und begleitet mich bis zum heutigen Tag.

© JWK 2022-01-17

Hashtags