Das Wolgalied

Leara Thalen

von Leara Thalen

Story

Das Wolgalied

Weihnachten wird verschoben. Rund um mich sind in den letzten Wochen viele krank gewesen, dass es mich auch erwischt, war eine Frage der Zeit.

Ruhe geben. Fällt mir schwer. Das Programm im Fernsehen langweilt mich. Manches Mal berührt es mich, unverhofft, vor allem, wenn es mich an etwas erinnert.

Klassik, Sängerinnen und Sänger, die eben doch festliche Stimmung zaubern.  In meiner Familie so sehr geliebt, dass immer gesungen worden ist. Seit Generationen. Mein Vater konnte Lieder wunderschön pfeifen, ich kann sie nur singen und eventuell auf dem Klavier spielen.

Das Wolgalied.

Als kleines Mädchen bin ich mit der Mundharmonika im Garten auf dem Holzstoß gesessen und habe es gespielt. Mit sehr viel Mitgefühl im Herzen für jemanden, der sagt: „Hast du dort oben vergessen auf mich …“

Beschützt, rundum gesegnet, so habe ich mich gesehen. Das Leben würde wundervoll werden, ich fieberte ihm entgegen. Aber das Leben ist nicht nur schwarz oder weiß. Die vielen Zwischentöne habe ich noch nicht gekannt.

Riskant sind manche meiner Entscheidungen gewesen Mut kann man nicht kaufen, ich hatte jede Menge davon. Beruflich habe ich einiges gemacht, das nicht meinen Vorlieben entsprochen hat. Ich habe Menschen geliebt, die ich nicht verstanden habe, Menschen, die mich nicht verstanden haben und dabei viel erfahren über mich, über andere, über die Unmöglichkeit, alles zu erreichen, alles zu planen und in allem erfolgreich zu sein. Ich habe gelernt, meine Kraft zu nützen, um mich über Wasser zu halten und Vertrauen gewonnen, dass Veränderungen möglich sind, wenn ich mich dafür einsetze.

Manchmal steht man wie der Soldat am Wolgastrand einsam und verlassen. Der Soldat kann es wohl kaum, aber ich kann weggehen, wann immer ich will. Weg aus Einsamkeit, weg aus unerfüllbaren Träumen, hinein in die Grautöne, wenn schon das Weiß nicht greifbar ist. Die Grautöne gestalten, lieben lernen, mit ihnen wachsen und tanzen.  Nehmen, was das Leben bringt. Die Menschen, die mir nahe sind, immer wieder umarmen. Die, die mir fremd sind, freundlich grüßen und gehen lassen. Meinen Beitrag leisten, dass Einsamkeit sich verringert. Die Mundharmonika hervorholen und für meine Enkelkinder spielen. Auch für mich. Draußen, wenn die Nacht beginnt, zwischen den beiden Schuppen, auf einem harten Holzhaufen wie damals. Mit dem Gefühl wie damals: Es wartet so viel. Ich habe so viel zu entdecken. Türen auf und hinaus in die Welt. Türen auf und herein mit den Menschen, die kommen wollen. Türen auf für die Hoffnung, dass Menschen einander helfen, wenn Gott gerade anderes zu tun hat.

„Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott!“, denn nur auf Hilfe zu warten ist verlorene Zeit. Das Werkzeug haben wir dabei, wir müssen es nur auspacken.

© Leara Thalen 2023-12-26

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional