Der alte Apfelbaum

Vanessa Stegmaier

von Vanessa Stegmaier

Story

Ich möchte mich nicht als Dorfkind bezeichnen, denn Leute, die vom Dorf kommen, sind doch oft dieser eine Schlag Mensch, den viele im Kopf haben, wenn man sagt, man komme vom Dorf. Aber mich als Stadtmenschen zu bezeichnen wäre ebenfalls nicht richtig – ich bin ein Mädchen, das behütet auf dem Dorf aufgewachsen und dann, ohne Zweifel und mit ganzem Herzen, dem Ruf der Stadt gefolgt ist.

Und nun liege ich wieder hier. Die Decke unter mir ist weich und doch spüre ich jeden kleinen Hügel Erde, der von Maulwürfen sorgsam aufgeschichtet wurde und um den sich mein Körper nun windet, um eine weiche Stelle des Untergrunds dazwischen zu finden. Eine meiner Hände liegt im Gras, das noch leicht feucht ist. Heute Nacht hat mich das kleine Sommergewitter aus dem Schlaf gerissen und heute Morgen klammerten sich die letzten Regentropfen an die Fensterscheibe meines ehemaligen Kinderzimmers. Ich streiche gedankenverloren durch das Gras und die einzelnen Halme gleiten durch meine Finger. Das Gras ist höher als es normalerweise ist, weil sich mein Vater durch die anhaltende Nässe vehement weigerte, den Rasen zu mähen. „Wenn es wieder trocken ist“, sagt er dann und ich sehe ihm seine Ungeduld deutlich an. Trotz des feuchten Rasens ist es angenehm warm. Die Sonnenstrahlen räkeln sich seit ein paar Stunden am Himmel und füllen meine Wangen mit rosafarbener Wärme. Ich liege unter dem alten Apfelbaum, den ich schon als Kind liebte. Wenn es damals auf den Herbst zuging, half ich meinem Vater stets beim Sammeln der Äpfel, die dann die ganze Wiese bedeckten und herrlich süß schmeckten. In den darauf folgenden Wochen standen von da an fast täglich Apfelbrei und Apfelkuchen auf dem Speiseplan, worauf ich mich jedes Jahr aufs Neue freute. Die Sonne reckt sich durch die geschwungenen, verwinkelten Äste und findet mit jedem noch so kleinen Windstoß einen neuen Weg durch die Verzweigungen auf mein Gesicht. Ich strecke meine Arme in die Luft und lege meine Hände auf die Stirn, um meine Augen vor der Sonne abzuschirmen. Ich höre das Zwitschern der Vögel in der Baumkrone und das Summen einer Biene, die sich neben meiner Decke von Gänseblümchen zu Gänseblümchen schwingt und dabei ihren ganz eigenen Sommertanz aufführt. Dieser spezielle Geruch von nassem Gras und Sonnencreme auf meiner Haut liegt mir in der Nase und hinterlässt ein angenehmes Gefühl von Geborgenheit und Vorfreude in mir.

Ich liebe diese lauen Sommertage. Und er liebte sie auch.

© Vanessa Stegmaier 2022-08-31