von LisaMaria
Ich kannte einen älteren Mann- er liebte Ausflüge auf seinem “Drahtesel”, wie er sein Fahrrad liebevoll nannte. Jeden Morgen traf ich ihn auf meinem Weg zur Arbeit. Er fuhr damit zum Markt, um seiner Frau frisches Obst und Gemüse zu besorgen. Mehr als das. Bei dem Blumenverkäufer um die Ecke besorgte er stets einen Strauß Tulpen für seine Frau- sie war bettlägerig. Ich freute mich immer, ihn zu sehen, wie er, mit den Blumen in der einen Hand, die Lenkstange in der anderen, nach Hause radelte. Einen Korb voller Köstlichkeiten am Gepäcksträger, freundlich zur anderen Straßenseite grüßend, lächelte er und war stets guter Laune.
Einmal, da fragte ich ihn, ob er denn noch ein Auto hätte. Doch der gute Mann meinte nur, er bevorzuge das Fahrrad um der Umwelt und der jungen Generation somit etwas Gutes zu tun. Einen Führerschein hatte er nicht, all die Jahre. Damals, als seine Frau noch agil war, seien sie viel mit dem Zug unterwegs gewesen. Hätten Landteile erkundet, die man bei einem Flug oder einer Autofahrt einfach nicht wahrnehmen würde. Er liebte die Entschleunigung, die ihm ein Spaziergang, eine Fahrradfahrt oder auch ein Segeltörn bieten konnten. Den Wind zu spüren, den Wald zu riechen und die Blumen zu sehen, das war es, was ihm stets Freude bereitete.
Eines Tages, es war ein trüber Vormittag, da vermisste ich seine Gegenwart. Niemand kam mir freundlich lächelnd auf dem Fahrrad entgegen. Zuerst dachte ich er sei aufgrund des Wetters ausnahmsweise zu Hause geblieben. Doch dann bemerkte ich die Pate, die in dem kleinen Schaukasten vor der Kirche ausgehängt war. Der alte Mann war gestorben.
Ich erinnerte mich daran, als er zuletzt die gelben Tulpen mir überreichen wollte. Er sagte, er hätte sie von seiner Mutter geschenkt bekommen. Diese Geste von dem netten, offensichtlich verwirrten Mann berührte mich zutiefst. Ich sagte ihm, er solle sie mit nach Hause nehmen, seine Frau würde sich bestimmt freuen. Das war das letzte Mal, als ich ihn gesehen hatte.
So vergingen die Jahre, und ich versuchte, mir den alten Mann als Vorbild zu nehmen. Mein Auto verkaufte ich. Da ich in München lebte, sah ich keine Notwendigkeit mehr dafür. So oft es ging, mied ich sogar die Straßenbahn und fuhr mit dem Fahrrad. Oft erzählten mir Freunde, die würden mit dem Rad Ausflüge machen. Manche mit einem e-bike, manche mit einem Rennrad, wieder andere mit einem Mountainbike. Doch eben dieselben Personen, erlebte ich oft, wie sie von einer Gasse in die nächste mit dem Auto fuhren. Zum Einkaufen machte sich niemand die Mühe, zu Fuß zu gehen oder einen Fahrradgepäckträger zu verwenden. Sei es auch, um nur einen Becher Schlagobers zu kaufen.
Es fühlt sich nicht richtig an für mich. Auf Flugreisen verzichte ich nun ganz- und versuche alles, was ich mache, bewusster zu tun. Der alte Mann ist für mich ein Vorbild, wie es nur selten jemand war …
© LisaMaria 2021-05-03