von Bernd Schreiber
Meine Frau Marion ist ein sehr lieber Mensch, also fast immer, außer z.B. einmal im Alter von 10 Jahren. Sie wohnte damals in Waldesruh, ein beschauliches Vorstadtidyll knirsch an der Grenze zu Berlin. Es gab dort wenig Autoverkehr, also spielten die Kinder natürlich auf der Straße. Marion mittenmang.
Ein Nachbar störte sich an den Kindern und ihrer Spielerei auf der Straße. Er beschwerte sich über den Krach, sie waren zu laut usw. Er kam dann aus dem Haus, jagte die Kleinen weg, die sollten gefälligst woanders spielen.
Es ist klar, dass so jemand im Laufe der Zeit zum bösen Onkel wurde, den man nicht leiden konnte. Klingelstreiche waren sehr beliebt und sehr häufig mit ihm als Opfer, aber zu oft wird dann auch irgendwann fad. Außerdem reagierte der Nachbar kaum noch darauf, da wird’s erst recht langweilig.
Sie hatten sich wieder mal wieder über seine Beschwerden geärgert und gesehen, wie er kurz danach das Haus verließ. Haus und Grundstück waren unbeobachtet. Das Grundstück war sehr gepflegt, der Garten picobello in Schuss und der Apfelbaum darin Nachbars Liebling. Der Baum war durch sorgfältige Schnitte niedrig gehalten, sehr harmonisch im Anblick und er trug auch in jenem Jahr nicht viele, aber sehr schöne, große runde Äpfel. Die Erntezeit stand noch bevor, deshalb hingen die Früchte unreif und grün an den Ästen.
Als mir Marion die Geschichte bis dahin erzählt hatte, sagte ich ihr auf den Kopf zu, dass sie alle Äpfel gepflückt haben. Nein, meinte Marion, aber sie hatte plötzlich eine andere Idee. Sie ging zu dem Baum und biss in einen der Äpfel, ohne ihn zu pflücken. Die anderen Kinder waren begeistert und bissen in alle Äpfel, die sie erreichen konnten. Marion sagt, das hätte zum Schluss schon komisch ausgesehen, ein Baum mit lauter einmal angebissenen Äpfeln.
Die Reaktion des Nachbarn bei seiner Rückkehr ist nur insofern überliefert, dass es kurze Zeit später an Marions Haustür klingelte. Ihr Vater öffnete und vor ihm stand der wutschnaubende Nachbar. Marion hatte sich vorsichtshalber in einem hinteren Raum in Sicherheit gebracht. Sie konnte aber hören, wie ihr Vater mit Überzeugung den Vorwurf zurückwies: So etwas Unerhörtes würde seine Tochter auf keinen Fall machen. Anschließend hielt er Marion mit gleicher Überzeugung eine Standpauke, dass man so etwas Unerhörtes auf keinen Fall macht. Anschließend unternahmen ihre Eltern noch einen kleinen Abendspaziergang, der am Nachbargrundstück vorbeiführte. Man will sich doch nichts entgehen lassen.
Die Moral von der Geschichte: Ein Apfelbiss kann auch in kleinen Gärten kleine Paradiese verändern.
Nachtrag: Es steht ein ähnlicher Apfelbaum bei uns im Garten mit derzeit ähnlich grünen Äpfeln dran, den Marion sehr mag. Für ein möglichst authentisches Bildmaterial drängte es sich förmlich auf, dass ich vorhin in einen reinbiss, um das Foto oben schießen zu können. Sie hat’s mir verziehen, denn ich ließ die anderen in Ruhe. Obwohl, es hätte mich interessiert, wie …
© Bernd Schreiber 2021-10-03