Der Engel ohne Flügel

Peter Haas

von Peter Haas

Story

Von meinem Großvater stammt ein Erbstück: ein wuchtiger Barockengel aus Lindenholz geschnitzt und mit einer originalen Fassung versehen, ein draller, lustiger, lockiger Knabe. Er hat einen Schraubhaken im Rücken und wenn er mit einem Stückchen Draht oben an die Wand gehängt wird, dann schwebt er trotz seiner barocken Formen ganz leicht und locker. Er segelt ganz sanft durch die Luft ohne davonzuschweben. So begleitet der Engel mich schon viele Jahre, und wo ich auch wohnte, fand ich einen Platz für ihn, der mir passend erschien. An jedem Ort, den ich für ihn aussuchte, fing er wieder an zu schweben, oder er setzte ganz einfach seinen Flug fort. Ich bin nicht sicher, ob es ein Knabe oder ein Mädchen ist, denn zwischen den Beinen schwingt ein goldenes Lendentuch, das vom Flugwind gebauscht ist und schamhaft verhüllt, was ihn eindeutig zuordnen ließe.

Erst bei meinem letzten Umzug fiel mir nahe an seinen Schulterblättern ein Loch auf mit den Resten eines alten Holzdübels, ein ovales Stückchen abgebrochenes Holz, das auch der Rest eines Flügels sein könnte. Zuerst wollte ich es nicht glauben, aber bei näherer Betrachtung mehrten sich die Indizien: Mein Engel hatte einmal einen Flügel besessen, und zwar nur einen, an der wandabgewandten Seite.

Die Entdeckung überraschte und wunderte mich. Ich hatte einen Flügel bei dem Engel nie vermisst. Er flog ohne Flügel so lang ich mich erinnere und so erschien mir ein Flügel höchst überflüssig und unnötig. Dann versuchte ich die Sache zu vergessen, aber schließlich überlegte ich, bei Gelegenheit, vielleicht auf einem Flohmarkt oder einer Varia-Auktion, einen passenden Barockflügel zu erwerben. Aber soviel ich auch Ausschau hielt, alle Flügel, die mir zu Gesicht kamen, waren irgendwie unpassend, zu groß, zu klein, zu mager, zu mächtig, zu schmal oder zu breit. Ganz abgesehen davon waren die meisten dieser engellosen Flügel auch gar nicht aus der Barockzeit, in der mein Engel geschaffen wurde. Je länger ich darüber nachdachte, umso mehr gewann der alte Gedanke Oberhand, wonach mein Engel gar keine Flügel braucht, um zu fliegen.

Nein, ich meine nicht den Haken und den Draht, an dem er befestigt ist. Vielmehr ist es sein jahrelanges Schweben, das die Befestigung vergessen ließ. Bei genauer Betrachtung erscheint es mir jetzt so, als würde ich die Putte beleidigen und kränken, wenn ich ihr nachträglich einen holzgeschnitzten Flügel in den Rücken dübeln würde. Fremd und komisch und seltsam unpassend und geradezu überflüssig würde der schönste Barockflügel anmuten, den ich finden könnte. Seit ich mich entschieden habe, lächelt mein Engel noch deutlicher als zuvor. Und obwohl ich nicht fromm bin und nicht an Wunder glaube, sehe ich ihn jeden Tag fliegen – ohne Flügel.

© Peter Haas 2021-06-07

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