von Thomas Paar
Heute am frühen Vormittag erhielt ich einen unerwarteten, aber erfreulichen Anruf von meinem Papa. Nach einem kurzen Wortwechsel, kamen wir zum spontanen Entschluss, gemeinsam meine Oma zu besuchen. Der zu Hause durchgeführte Schnelltest wies nur einen Strich auf, somit stand dem Ganzen nichts mehr im Wege. Viel zu lange war es schon her, dass ich sie gesehen habe, wann genau es das letzte Mal gemeinsam mit meinem Papa war, daran kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Umso größer war die Freude, wie wir uns dann gesehen haben. Wir waren natürlich nur oben, um sie zu sehen, trotzdem bekamen wir eine Mehlspeise serviert. So wie Omas halt sind. Lachend und tratschend saßen wir also da und redeten einfach drauf los. Es dürfte Monate oder gar ein bis zwei Jahre ins Land getreten sein, seit wir das letzte Mal gemeinsam so etwas erlebten. Doch die Geschichten, die herzliche Stimmung und besonders das Lachen, ließen uns die Zeit, die seitdem letzten Mal vergangen war, komplett verschwinden. Es war weder komisch noch angespannt. Einfach meine Oma, mein Papa und ich. Zum Glück hat keiner die aktuelle Lage, die in der Welt herrscht, angesprochen, denn das wäre vermutlich ein Stimmungskiller gewesen. So kam es, dass wir uns in der Zeit eher rückwärts bewegten. Komplett unbewusst, aber beinahe in zehn Jahres Schritten vollzogen wir die Zeitsprünge. Wir waren bereits dort angekommen, wo ich zur Volksschule gegangen bin. In der Wohnung meiner Oma herrscht ein Überangebot an Fotos. Unter diesen sind auch etliche von meinem Opa dabei. Ich kann mich nicht mehr an ihn erinnern. Zwar gibt es Fotos von mir und ihm, aber mittlerweile ist er seit 30 Jahren tot. Doch wie meine Augen so durch die Wohnung glitten und an den Bildern vorbeischweiften, fiel mir plötzlich ein schwarzer Faden vor mein inneres Auge. Von Erzählungen kann ich mich noch erinnern, dass mein Opa früher ein Schneider war. Diesen Gedankenstrang warf ich in die Runde. Mir gegenüber saß also meine Oma, mit ihren 85 Jahren und redete über den Opa. Sie tat es mit so einer Überzeugung und auch irgendwie Liebe, dass man denken könnte, dass er nur mal eben aufs Klo gegangen ist und nicht schon seit 30 Jahren unter der Erde liegt. Selbst wenn wir diese Sachen schon in leicht abgeänderter Form gehört hatten, fand ich es schön. Denn obwohl ich meinen Opa kannte, erinnere ich mich nicht mehr an ihn. Die Erinnerungen an ihn, die ich habe, sind die Besuche auf dem Friedhof. Da waren diese Bilder, die meine Oma von ihm beinahe mit Worten zeichnete, eine tolle Sache. Und alles nur wegen eines einzigen Fadens, der uns an diesem Tag gemeinsam in die Vergangenheit führte.
© Thomas Paar 2022-04-29