Der Fenstergucker

Walter Weinberg

von Walter Weinberg

Story
wien 1500 – 1513

Das Meisterstück des Stephansdoms ist die aus Stein gemeißelte spätgotische Domkanzel. Das detailreiche Kunstwerk wurde vom aus Brünn stammenden Bildhauer Anton Pilgram geschaffen. An der Rückseite befindet sich ein eindrucksvoller Bogen, durch den die Priester die Stiege zur Domkanzel betraten. 14 Stufen führen auf der um den Pfeiler gewundenen Treppe zum Predigtstuhl hinauf. Am Handlauf des Geländers entdeckt man Frösche und Eidechsen, die symbolisch für den Kampf zwischen Gut und Böse stehen. Die Frösche, die sich in Sümpfen aufhalten und das Sonnenlicht meiden, stehen für das Böse sowie die Eidechsen, die kriechend in das Sonnenlicht aufsteigen, für das Gute stehen. Am oberen Ende des Handlaufs entdeckt man einen Hund, der auf das hinauf kriechende Getier blickt und die Kanzel davor beschützt. Das „Hündchen ohne Furcht“ stoppt die Kriechtiere, die hier böse Geister symbolisieren und verhindert, dass sie den Priester bei seiner Predigt negativ beeinflussen. Darunter am Geländer findet man gotische Räder, die abwechselnd von 3 Verstrebungen und von 4 Verstrebungen ausgefüllt sind. Während sich die 3-teiligen Räder gegen den Uhrzeigersinn drehen, drehen sich die 4-teiligen im Uhrzeigersinn, was wiederum den Kampf zwischen Gut und Böse darstellt. Eine Domkanzel wurde im Mittelalter üblicherweise in der Mitte der Kathedrale platziert, weil dadurch mangels moderner Technik möglichst alle Gottesdienstbesucher dem Priester gut verstehen konnten. Bis in die 1970er-Jahre wurde die Messe auf Latein gelesen, weshalb die Gläubigen, die es nicht verstanden den Rosenkranz beteten. Nur die Predigt über das Evangelium wurde in der Landessprache gehalten, wofür der Priester den Altarraum verließ und die Kanzel bestieg. Zwischen dem Geländer der Stiege und dem sechseckigen Kanzelfuß entdeckt man ein in Stein gemeißeltes Porträt. Ein Mann öffnet das Fenster und blickt dem Betrachter ins Gesicht. In seiner Hand hält er als Zeichen seiner Zunft einen Zirkel. Der künstlerische Erschaffer der Domkanzel, Anton Pilgram, hat sich in dieser Form selbst als den „Fenstergucker“ verewigt und zeigt sich mit dem Zirkel in der Hand als der offiziell ernannte Dombaumeister. In ähnlicher Weise, ebenfalls mit Zirkel, zeigt sich der zu Ehren gekommene Steinmetz noch einmal unter dem schräg gegenüberliegenden Orgelbalkon, aber dort viel realer in bunten Farben. Auch die Domkanzel wurde zur Vollendung bunt mit Ölfarbe bemalt, wie auch der Fenstergucker. Jahrhunderte später bei der dringend notwendigen Restaurierung wurden die Reste der Bemalung vollständig entfernt und unter dem plötzlich farblosen Fenstergucker wurde die Jahreszahl der Restaurierung „1880“ eingemeißelt. An der Kanzel sind die Kirchenväter Augustinus, Gregor, Hieronymus und Ambrosius dargestellt. Darunter findet man neben Heiligen auch Apostelfiguren. Über der Kanzel befand sich bis 1945 ein kunstvoll aus Holz geschnitzter Schalldeckel, der leider wegen des im Dachstuhl ausgebrochenen Feuers verbrannte! 1938 fand die bedeutendste Predigt auf der Kanzel statt, als Kardinal Innitzer bei einer Jugendmesse nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich durch den Führer Adolf Hitler verkündete: „Nur einer ist euer Führer: Jesus Christus!“ Diese Worte hatten am nächsten Tag den wütenden Sturm der Hitlerjugend auf das Erzbischöfliche Palais zur Folge, das erhebliche Schäden davon trug, wie das zur Erinnerung noch heute an der Wand hängende Gemälde der Kreuzigung, das mit Messern zerschnitten und durchstochen wurde!

© Walter Weinberg 2024-08-27

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Herausfordernd, Komisch, Inspirierend, Mysteriös
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