von Daniel Fischer
Es war im Herbst vor einigen Jahren, da kaufte ich ein Vogelhaus und etwas Futter dazu. Sorgfältig montierte ich es am Balkon und hielt von da an geduldig Ausschau.
Es dauerte dann tatsächlich knapp einen Monat, bis zum ersten Mal weniger Futter im Vogelhaus war. Von da an ging es dann Schlag auf Schlag – bereits am nächsten Tag war fast kein Futter mehr darin. Ich hatte einiges davon in Reserve, also befüllte ich das Vogelhaus wieder großzügig und platzierte mich in einiger Entfernung, um nun endlich einen Blick auf die fressenden Vögel zu erhaschen. Schon konnte ich die ersten Meisen sehen, die sich eifrig zirpend über die Körner hermachten. Ich war erstaunt, wie viele es waren – ich zählte mindestens acht.
Mir fiel auf, dass sich die Meisen abwechselten – sobald eine genug Körner im Maul hatten, flog sie davon und die nächste machte sich ans Werk. Diese Prozedur wiederholte sich ständig, bis es dunkel wurde. Es versteht sich wohl von selbst, dass ich übermäßig stolz war, wie sehr den Meisen mein Futter schmeckte. Sie fraßen beinahe einen halben Kilo Körner am Tag.
Dann geschah etwas äußerst sonderbares: Circa einen Monat, nachdem die Meisen mich zum ersten Mal besucht hatten, machte ich einen Spaziergang durch den kleinen Wald, der nicht weit von meiner Wohnung entfernt liegt, wie ich es häufig zu tun pflege. Da vernahm ich ein heftiges Zinzelieren und als ich um mich blickte, entdeckte ich einige Meisen, die alle zwischen dem Wald und der Richtung, aus der ich gekommen war, hin und her flogen. Ob das die Gruppe von meinem Balkon war? Brachten sie das Futter vielleicht zu einem Versteck im Wald?
Entschlossen das herauszufinden, folgte ich ihrem Zirpen quer durch den Wald, bis ich zu einer kleinen Lichtung kam. Ich traute meinen Augen nicht. Direkt vor mir saß im hohen Gras eine Meise von der Größe eines kleinen Kalbs.
Sie war entsetzlich anzusehen, unfassbar fett und missraten. Sie konnte sich kaum noch rühren, ihr Körper war viel zu schwer, als dass ihre dünnen Beine sie hätten tragen können. Geschweige denn ihre Flügel. Sie nahm mich gar nicht wahr, konzentrierte ihren gierigen Blick nur auf die kleineren Meisen, die ihr abwechselnd das Futter von meinem Balkon brachten und sie fütterten.
Ich wusste natürlich genau, was zu tun war – ab dem nächste Tag füllte ich die doppelte Menge an Körnern in das Vogelhaus, damit auch genug für die kleineren Meisen da war.
© Daniel Fischer 2021-06-10