Der gefährlichste Ort der Welt

Judith Lahfeld

von Judith Lahfeld

Story

Ich war in meinem Leben schon in verschiedenen Ländern, hatte Skorpione in meinem Schuh, bin mit Achterbahnen gefahren und als Beifahrerin auf einem Motorrad. Ich habe mir Zehen an Couchtischen gestoßen und mich mit dem heißen Wasser eines Cup Noodle Bechers verbrüht. Das alles ist nichts zu dem Nervenkitzel, den man gratis an einem bestimmten Ort erlebt. Wie der Clown von „Es“ in seinem Gully wartet ein Unheil nach dem Anderen auf uns. Ein Wort, vier Buchstaben. Mein persönlicher Lord Voldemort. „Kita!“

„Es” gibt eigentlich keinen Ort auf der Welt, an dem sich mehr Keime und Bakterien sammeln und zu einem alles verschlingenden Monster namens Bazillus Maximus mutieren. Das Angebot ist riesengroß. Nur leider kann man nicht aussuchen. Husten, Schnupfen, Pseudokrupp. Steigerungen sind Krankheiten wie Magen-Darm. Da hat sich das Toilettenpapier-Hamstern während der Pandemie spätestens gelohnt! Die Maul- und Klauenseuche des Kindergartens nennt sich „Hand-Mund-Fuß“. Es ist aber auch das Unfallbuch, welches die blanke Panik in mir auslöst. Immer, wenn die Erzieherin vor meinem Kind mit diesem Buch in der Garderobe auftaucht, hoffe ich, dass es sich wieder nur um eine harmlose Kleinigkeit handelt. Meistens habe ich Glück! „Beim Schmusen mit Nailah umgefallen. Beule, Erzieherin hat gekühlt“. „Bisswunde, Erzieherin hat getröstet“. „Schramme am Kinn, nicht die Kurve gekriegt. Getröstet und Pflaster“.

Ich kenne sie alle, diese Unfallbuchphrasen. Jeden Morgen fühlt sich der Weg zur Kita an, wie der Gang zum Schafott. Die Laune ist super, bis ich einen ersten Blick auf das schwarze Brett werfe und schon den bedrohlich mit Klebeband angeklebten Zettel erblicke. Handschrift! Es musste schnell gehen. Mir steht urplötzlich der Angstschweiß auf der Stirn. Es ist doch erst Montag und ich habe noch so viele Dinge zu erledigen. Ein krankes Kind kann ich mir nicht leisten. Und einen kranken Mann erst recht nicht! Ich lese die zittrig von der Erzieherin geschriebenen Buchstaben und kann die Angst förmlich riechen. Kurz habe ich auf Magen-Darm spekuliert. Es geht noch viel schlimmer.

„Es sind vermehrt Kopfläuse im UG aufgetreten“. Es dauert nur eine Millisekunde und ich fange an, mich hinterm Ohr zu kratzen. Parallel werfe ich einen verzweifelten Blick auf die schönen langen Haare meiner Tochter, die ich gerade erst zu zwei liebevoll geflochtenen Zöpfen zusammengebunden habe. Mir wird ganz schwindelig und ich halte mich mit weichen Knien an der Türklinke fest. In meinem Kopf spielt sich bereits das gesamte Szenario ab. Betten abziehen, Kuscheltiere und Mützen in die Tiefkühltruhe packen. Die gesamte Wäsche waschen und jedem eine Kur verpassen. Direkt von der Kita gehe ich zur nächsten Apotheke. Meine Augen sprechen wohl Bände. „Läusekur?“, fragt mich die Apothekerin fröhlich. „Familienpackung bitte“, sage ich mit krächzender Stimme. „Gern. Sie sind heute bereits die Vierte“.

© Judith Lahfeld 2022-08-09

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