von Jany Wacholder
Der gleiche Tag – eine Kurzgeschichte über die Heimat und die Fremde
Kaltes Metall gräbt sich in ihrer Wange ein. Presst sich gegen ihre Zähne.
Mühelos überwindet die Kälte die dünne Wand zwischen Eisen und Fleisch.
Ihren gebeugten Kopf lehnt sie gegen die ausgebrannte Straßenlampe.
Die eiserne Stange gibt ihr Halt.
Ihre Füße versinken im Schnee. Taub und still liegen sie unter der weißen Decke.
Sie wartet auf ihre Abfahrt.
Wartet wieder.
Hinter ihr ein graues Haus. In die kahle Fassade haben sich längst unzählige Risse eingegraben.
So viele, dass sie nicht einmal versucht hat, sie zu zählen.
Dort drinnen wurde ihr ein Zimmer zugeteilt. Dritter Stock. Zweites Fenster von Links.
Weder unvertraut noch vertraut.
Ein Raum, der einfach nur ist.
Sie schläft dort. Isst dort. Atmet.
Manchmal fühlt es sich so an, als lebe sie dort.
Nur die leeren Wände verraten sie.
Der Bus hält vor ihr an. Nur eine halbe Stunde verspätet. Schwankend erreicht sie die Tür.
Der Fahrer starrt sie durch die Scheibe an.
Sein Blick, eine blaue Leere.
Für einen Moment scheint es, als würde sich die Tür nicht öffnen.
Mit einem Knirschen schwingt sie endlich auf.
Sie steigt ein und die Kälte folgt ihr hinein.
© Janset Wacholder 2023-05-31