von Gabriele Leeb
Grete öffnet wie jeden Tag den Briefkasten. Ein Brief und ein dünnes Päckchen fallen heraus. Sie dreht es um, kein Absender.
Sie geht ins Haus hinein, holt ihren Brieföffner und schneidet es auf. Sie ist nicht der Typ, der einfach drauflosreißt, nein, Ordnung muss sein. Eine kleine Pralinenschachtel und ein beschriebener Zettel finden sich darinnen. „Liebe Gretel, ich verehre dich schon lange. Lass es dir schmecken. Ich bin so nah und doch so fern.“ Dein heimlicher Verehrer.
Erst jetzt bemerkt Grete, dass das Päckchen nicht abgestempelt ist, also muss es irgendwer selbst hineingesteckt haben. Sie zermartert sich das Gehirn, doch es fällt ihr niemand ein. Sie hat einen heimlichen Verehrer. Sie weiß allerdings nicht, ob sie geschmeichelt sein soll, immerhin ist sie schon etliche Jahre verheiratet. Neun kleine, runde Pralinen lachen sie an. Grete nimmt eine heraus und steckt sie in den Mund und dabei überlegt sie weiter. Es kann nur ein Mann vom Ort sein, etwas anderes kann sie sich nicht vorstellen. Aber wer?
Die kleine Köstlichkeit schmeckt herrlich. Zart, süß mit einem Hauch von Marzipan. Den Zettel steckt sie zu ihrem Briefpapier in die Lade und dort bleibt er an die dreißig Jahre. Mit 70 zieht sie noch einmal um in das Nachbarhaus ihrer Tochter. Ihr Mann ist vor fünf Jahren verstorben und das Leben alleine im Haus wurde ihr zu beschwerlich. Der große Garten, die Einzelöfen, die zu befeuern waren und all die Räume sauber zu halten und im Winter die Schneeräumung. Lange hat sie sich dagegen gewehrt, ihr Elternhaus zu verlassen, doch dann ergab sich die günstige Gelegenheit und sie griff zu. Sie hat es nie bereut. Sechs Jahre später zog ihre Tochter auch noch in die Nachbarwohnung und ihr Leben war nahezu perfekt.
Zum neunzigsten Geburtstag saßen sie wieder, so wie eigentlich jeden Tag, beisammen und Margarethe kramte in ihren Erinnerungsstücken herum und sie schauten sich diese alten schwarz-weißen Fotos an, die sie so liebte. Und unter all den Fotos und Karten und Briefen fiel der Zettel heraus von dem heimlichen Verehrer. Sie las ihn und schüttelte den Kopf. Sie wisse noch immer nicht, wer das damals hätte sein können. Zumindest sagte sie das ihrer Tochter.
In knappen zwei Monaten jährt sich der Sterbetag von Mama zum zweiten Mal und ich erinnere mich an den Zettel. Irgendwie war er doch wichtig für sie, sonst hätte sie ihn nicht fast fünfzig Jahre aufgehoben. Vielleicht hatte sie ja doch eine Ahnung?
© Gabriele Leeb 2024-01-07