Der hohe Preis der Vernunft 4/17

Robert J. Hönatsch

von Robert J. Hönatsch

Story

»Er fliegt mit seiner neuen Lebensgefährtin auf die Karibikinseln und überlässt seiner Tochter das Penthouse. Magdalena Schereika. Jung, reich, hübsch und angesagt. Genau der Typ, den das Vanitasphantom präferiert. Als der Vater dann zu seiner Reise aufbricht, tritt von Boock aus den Schatten, bricht in die Wohnung ein und lauert dem Mädchen auf. Doch das ist zufällig bei einer Freundin. Von Boock, der ohnehin seinen letzten Mord geplant hat, nimmt sich in der Badewanne das Leben. Eine Theorie ohne Lücken, nicht wahr?«

Neville dachte, dass die Rechnung ein wenig zu glatt verlief. Engel hatte vergessen, die wichtigste Konstante einzubeziehen: die Wirklichkeit. Er schmiss die Fahrertür zu, legte den Gurt an und startete den Motor. »Ich gebe Ihnen in einer Sache recht«, meinte er. »Der Mörder riskiert immer mehr. Er wird wissen, dass wir ihn früher oder später drankriegen werden.«

Sein Vorgesetzter musterte ihn. Seiner Kehle entfuhr ein enerviertes Stöhnen – eher beabsichtigt als unabsichtlich. »Manchmal hab ich das Gefühl, dass Sie den Fall gar nicht abschließen wollen, Neville. Als würde Ihr ganzes Leben nur noch daraus bestehen und Sie wüssten nicht mehr, was Sie täten, wenn die Vanitasmorde vorbei wären. So, wie ein Schwerverbrecher, der Zeit seines Lebens im Knast saß, und sobald er rauskommt, wieder eine Straftat begeht, weil er mit der gewonnenen Freiheit nichts anzufangen weiß.«

Der Fahrtwind blies eisig kalt durch das geöffnete Seitenfenster und vertrieb die Klimaluft. Im frühen April war das einzig Warme die Sonne. War sie weg, spürte man den Winter in seiner vollen Härte. Neville streckte den linken Arm hinaus und genoss das Gefühl des Windes, der in seinen Ärmel blies und ihn abkühlte. Er genoss das Gefühl, wie der angebrochene Blister zwischen seinen Fingern davonzufliegen drohte. Als zöge es die Antidepressiva fort von ihm und nicht umgekehrt. Als würde man Neville die Entscheidung abnehmen.

»Müssen Sie die Dinger immer noch nehmen?«

»Ab heute nicht mehr«, sagte er, ließ den Blister der letzten Packung bei hundert Stundenkilometer davonflattern.

Der Fahrtwind wehte Engel sein ergrautes, schütteres Haar über die Stirn. »Was damals bei Ihnen vorgefallen ist«, sagte er, »die Familientragödie, das Unglück — Seien Sie froh, dass der Fall endlich zu Ende ist. All die toten Mädchen, vielleicht erinnern sie Sie zu sehr an das Schicksal Ihrer eigenen Tochter.« Aus der Ferne ertönten Sirenen. Die pulsierenden Signallichter eines Löschzugs in der Ferne. Die Autos auf der gegenüberliegenden Straßenseite formten eine schmale Rettungsgasse. »Wo soll es morgen nochmal hingehen?«

»Nach Fehmarn.«

»Das wird sicher fabelhaft.«

Blaulicht durchflutete den Innenraum des Zivilen und huschte über die Gesichter der beiden Ermittler. Im Rückspiegel sah Neville hinter den angrenzenden Waldungen der B76 eine schmale Rauchsäule lotrecht in den Abendhimmel aufsteigen. »Ja«, sagte er. »Bestimmt.«

© Robert J. Hönatsch 2021-07-20

Hashtags