Auf seinem Weg zur Arbeit traf Namenlos die Götterboten Merkur und Hermes. Sie kamen direkt von der Erde, um den obersten Engeln von einem Krieg zu berichten. Um den Menschen zu helfen, bräuchte es dringend zusätzliche Schutzengel. Merkur schüttelte sich Schmutz von seinen verrußten Flügeln. Beim Aufbruch mussten sie durch eine zerstörte Straße und dicht an brennenden Häusern vorbeifliegen. Hermes hatte sich sogar einen Flügel angesengt. Namenlos fragte, was Krieg bedeutet. Hermes wollte dem kleinen Engel keine Angst einjagen. Er meinte, darum brauche sich ein junges Englein nicht zu kümmern. Merkur war da anderer Meinung. Er erzählte vom großen Land, dessen Präsident das kleine Nachbarland mit Waffen angriff. Der mag unbedingt auch dort der Herrscher sein.
Namenlos hörte zu und rief: „Ich kenn‘ mich aus, ich kenn‘ mich aus. Mein großer Bruder Paul ist auch oft einfach nur so gemein zu mir.“
Der kleine Engel bekam zu seinem fünften Geburtstag ein Trampolin für den Garten. Zuerst hatte es Paul gar nicht interessiert. Er sagte, das sei für Babys. Aber eines Tages kam er mit seinem Freund und schubste Namenlos vom Trampolin. Der kleine Engel ließ sich das nicht gefallen und kletterte wieder hinauf. Schließlich war es ja seines. Paul machte sich nun total wichtig. Er war nicht nur der Ältere, sondern auch viel stärker. Sein Freund feuerte ihn auch noch an, Namenlos gar nicht mehr auf das Trampolin zu lassen. Er boxte den kleinen Engel sogar mit der Faust in den Bauch. Paul drohte seinem Bruder, nichts der Mama zu sagen, denn sonst nehme er ihm seinen neuen Fußball weg. Namenlos hatte schreckliche Angst. In der Nacht schlich er sich aus dem Kinderzimmer zu Mama und Papa ins große Bett. Er nahm allen Mut zusammen und erzählte seinen Eltern, was Paul und sein Freund ihm angetan hatten.
Papa Engel war verärgert. Paul bekam Handyverbot und drei Wochen lang kein Taschengeld. Mama Engel hatte eine Idee, wie man die Geschwister wieder versöhnen könnte. Als Erstes sollte Paul sich bei seinem Bruder für sein Verhalten entschuldigen. Das Trampolin gehörte ja Namenlos. Nur der entscheidet, wen er darauf hüpfen lässt. Sie schlug vor, beide könnten gemeinsam tolle Sprünge auf dem Trampolin einüben. Sie dürften dann ihre Freunde einladen und gemeinsam die Kunststücke herzeigen. Es gäbe auch Popcorn und Saft für alle. Paul war davon gar nicht begeistert.
Der kleine Engel nahm seinen großen Bruder bei der Hand, stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: „Wir machen das, wir schaffen es, wir schaffen es gemeinsam.“
Mama Engel redete Paul gut zu. Es brauche nur ein bisschen Mut, um sich zu entschuldigen. Aber das kann jeder. Da war sie sich ganz sicher.
Namenlos wollte unbedingt auch Schutzengel werden und sofort auf die Erde fliegen. Merkur schüttelte den Kopf und sagte, es wäre viel zu gefährlich für zierliche Englein. Aber er könnte den Kindern, in dem Land wo Krieg ist, ein paar seiner Spielsachen schenken.
Als der kleine Engel heimkam, packte er zwei Bücher und vier kleine Stofftiere in einen Karton und rief: „Mama, Mama, ich brauche eine ganz große Schachtel. Ich schicke diesen Präsidenten mein Trampolin, damit sie gemeinsam Sprünge einüben können. Dann sind sie wieder gut miteinander und die Menschen leben wieder in Frieden.“
© Christa Weißmayer 2022-03-04