Der Kryptonit

Anaïs

von Anaïs

Story

Wir alle haben sie, diese eine Person, die uns einfach nicht loslässt. In den ungewöhnlichsten Situationen erscheint sie in unserem Kopf. Egal wie viele Beziehungen wir nach ihr eingehen, irgendetwas hat sich verändert. Vielleicht war es nur eine flüchtige Begegnung. Eine kurze Affäre. Eine unerwiderte Liebe. Ein ehemaliger Partner.

Wenn mein Verstand einmal kurz nicht aufpasst, lasse ich ganze Gespräche mit dir in meiner Erinnerung ablaufen und analysiere dabei deinen Gesichtsausdruck und Tonfall. Bestimmte Nuancen deiner Stimme in meinem Kopf lassen mich dann zusammenzucken, verlegen lachen oder glücklich sein. Ich sehe deine durchdringenden, eisblauen Augen vor mir und frage mich, was das Schicksal, das Universum oder die Liebe selbst mir damit eigentlich sagen wollen.

Weil ich überhaupt nicht mit dir zusammen sein will. Schon lange nicht mehr.

Manchmal erscheint mir mein Kryptonit-Mensch wie eine Flucht aus der Realität. Eine Vorstellung, die ich als Ausrede nutze. Solange dieses eine Gesicht ab und an vor meinem inneren Auge auftaucht, misst ein kleiner Teil von mir dem eine Bedeutung bei, die in keinem Verhältnis zur Realität steht. Irgendetwas reagiert dann in meinem Körper. Als würde ein bestimmter Stoff freigesetzt, der nur dir gehört. Das Gefühl, das dabei entsteht, ist weder gut noch schlecht – es verlagert einfach nur meinen gesamten Mittelpunkt und bringt alles durcheinander. Ich mag das Gefühl. Vielleicht weil es mir zeigt, dass ich theoretisch fähig bin, zu lieben.

Ich habe angefangen, mich Zuhause zu fühlen in dieser Vorstellung, in der ich nichts wagen muss. Ich kapsle mich ab von der Außenwelt, nicht wirklich natürlich, nur, was die großen Gefühle angeht. Ich sende ambivalente Signale, ich bin da und auch wieder nicht, ich enttäusche Erwartungen und rufe nicht wieder an.

Der Kryptonit dagegen bleibt. Je weniger wir uns sehen oder voneinander hören, desto mehr Macht hast du über meine Gedanken. Das gibt meinem Kopf genug Zeit, sich diese surreale Verbindung, diesen Irrglauben an die Liebe zurückzuerspinnen.

Die wirklich echten Gefühle entstehen, wenn wir uns sehen, miteinander schlafen, zusammen betreten schweigen oder mit Freunden einen großartigen Abend verbringen. Am glücklichsten bin ich, wenn diese Freunde dann zu mir sagen: „Ihr beide wärt perfekt zusammen.“ Oder wenn ich in deine Augen blicke und darin lese, dass diese Sache auch für dich noch nicht beendet ist. Wenn ich bemerke, dass du mich ganz anders küsst als früher, als würdest du es wirklich meinen. Und ich sehe, welche Emotionen ich noch in dir erwecken kann, wenn ich es darauf anlege.

Warum diese Momente die ehrlichsten sind? Weil alles so perfekt erscheint. Genau wie in der Vorstellung, irgendwie. Und doch völlig anders. Diese Momente befreien mich, weil mir klar wird: Mein Herz ist doch schon längst weitergezogen. Es ist zurück an seinem alten Platz, da, wo es hingehört. Vielleicht ist ihm nur ein bisschen langweilig.

© Anaïs 2021-03-18

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