Der letzte Vorhang (Februar)

Nancy Riemer

von Nancy Riemer

Story

Die letzten Töne seines Solos erklangen, ließ er noch einmal seine tiefe Stimme über das Publikum gleiten. Den Antagonisten ein letztes Mal lebendig sein, bevor er auf der Bühne einen dramatischen Tod starb. Einen letzten Sturz in den Abgrund, bevor das Böse besiegt war.

Er ließ seinen Blick über das Publikum gleiten, während er die letzte Note sang, noch einmal alles gab, was er an Leidenschaft für seinen Beruf mitbrachte. Das hier war sein Leben. Immer gewesen. Seit er klein gewesen war, hatte er Sänger werden wollen. In großen Musical-Produktionen spielen und zeigen, wozu er fähig war. Menschen nur mit seiner Stimme in den Bann ziehen.

Und schließlich sprang er, landete auf der großen Matratze im Hintergrund. Niemand, nicht einmal der Intendant, wusste, dass das hier die letzte Vorstellung seines Lebens sein würde. Dass er nie wieder ein Wort singen würde. Die letzten zwei Wochen hatte er auf diesen Tag hin gearbeitet, hatte unbedingt die Dernière spielen wollen. Der vorerst letzte Vorhang für das Stück würde der letzte seines Lebens werden.

Nach dem Ende seiner Figur gab es noch ein großes Finale, welches er kaum noch mitbekam. Vielmehr war er damit beschäftigt, von all dem Abschied zu nehmen. Von dem, was so lange sein Leben ausgemacht hatte. Er ließ seinen Blick über die Lichter gleiten, über den Holzboden, hinab zum Dirigenten. Wollte sich jede Kleinigkeit einprägen, wissend, dass er das nie wieder sehen würde.

Und schließlich kam der Schlussapplaus, der Moment, indem die Schauspieler gefeiert wurden. Er war beliebt beim Publikum, wurde auch heute wieder frenetisch gefeiert. Sein Herz schlug schnell, aufgeregt, als er sich ein letztes Mal verbeugte. Auch seine Fans ahnten nicht, was ihnen bevor stand. Und er würde sie im Unklaren lassen, so lange er konnte. Sie sollten ihn in Erinnerung behalten, so wie er war. Mit einem breiten Lächeln auf einer Bühne.

Lachend und glücklich ging er mit den Anderen in den Umkleideraum, scherzte mit ihnen und versprühte seinen ganz eigenen Charme. Auch sie sollten ihre letzte Erinnerung an ihn mit etwas positivem verbinden. Und schließlich verließ er das Gebäude, blieb noch für Fotos und Autogramme, bis er schließlich nach Hause fuhr.

Sein Weg führte ihn zu seinem Schreibtisch, setzte er sich auf den großen Stuhl und besah sich noch einmal die Röntgenaufnahmen seines Kopfes. Fiel sein Blick auf die Anomalie, die ihm sein Arzt als Hirntumor diagnostiziert hatte. Inoperabel. Nur wenige Wochen gab er ihm noch, bis er vollkommen hilflos war.

So lange wollte er nicht warten. Er wollte nicht dahin siechen, das unausweichliche Ende vor Augen. Nein… er wollte es selbst entscheiden, solange er noch konnte. Für diesen Moment hatte er alles vorbereitet, Briefe an seine Lieben geschrieben, damit sich niemand schuldig fühlte.

Schließlich griff er in seiner Schublade nach dem starken Schlafmittel. Er war bereit. Bereit für seinen letzten Vorhang.

© Nancy Riemer 2021-08-15

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