von Roman Scamoni
Ein Musiker war eingeladen, bei einem Festmahl des Königs zu spielen. Der König empfing einen Ehrengast, eine angesehene Fürstin aus edlem Hause. Neben den erlesensten Speisen wurde die Gesellschaft durch allerlei Kunstdarbietungen unterhalten. Als der Musiker, ein älterer Mann mit tiefen Falten im Gesicht und leuchtenden, hellen Augen, mit Inbrunst auf seiner Violine spielte, erhellte sich das Gemüt des Königs. Um vor seinem Gast neben dem opulenten Festmahl, dem prunkvollen Saal und den vielfältigen Vorstellungen auch mit seiner Großzügigkeit zu glänzen, rief er: „Der Musiker hat unser aller Herz erfreut. Er soll einen großzügigen Lohn erhalten – Kämmerer, bring ihn zur Schatzkammer und überreiche ihm einen Beutel mit zehn Goldstücken!“.
Der Musiker war hocherfreut und verneigte sich tief. Mit glänzenden Augen folgte er dem Kämmerer, der sich bereits eilig erhoben hatte. Der Kämmerer, ein Mann mittleren Alters mit einem fast mürrischen Gesichtsausdruck, eilte voraus, und der Musiker hatte Mühe, mit seinen alten Beinen Schritt zu halten. Die beiden verließen den Saal und betraten die weitläufigen Gänge des Palastes.
Der Weg führte sie hinaus aus dem Palast, und die frische Abendluft schlug ihnen entgegen. Die Stadt war in ein sanftes Dämmerlicht getaucht, die Straßen ruhig, nur das Geräusch ihrer Schritte hallte wider. Der Kämmerer ging schnell und zielstrebig weiter, als wäre es ein unbedeutender Spaziergang, doch der Musiker, der müde von der langen Reise war, kämpfte darum, Schritt zu halten. Am Rande der Stadt angekommen, wandten sie sich wieder zurück – eine lange Strecke, die der Musiker kaum mehr bewältigen konnte. Der Kämmerer, der das sparsame Herz des Königs kannte, war sich nun sicher, dass der Befehl nur ein Scherz gewesen sein konnte.
Nach einem Marsch, der sie beide fast völlig erschöpft zurückließ, kehrten sie endlich wieder in den Festsaal zurück. Der Musiker keuchte und stützte sich auf seine Violine. Der Kämmerer, der den langen Weg allein bestimmt hatte, schritt ruhig zurück in den Saal. Er fragte den König höflich, ob er die Anordnung wirklich so gemeint habe. Doch die Erinnerung an das bewegende Musikstück war längst verblasst, und der König, der wieder in seinem Thron saß, musterte den Musiker nur kurz.
„Für dieses flüchtige Vergnügen war der Lohn für dich eine ebenso flüchtige Freude in der Erwartung der Goldstücke,“ sagte der König mit einem Achselzucken. „Mir scheint, wir sind quitt!“
Der Musiker jedoch nahm es mit Humor und meinte mit einem herzhaften Lachen: „Da mögt ihr recht haben, mein König! So wünsche ich Euch noch ein heiteres Fest!“
Die Fürstin aus edlem Hause aber hatte das wahre Herz des Königs erkannt und den ehrlichen Schalk in den Augen des Musikers gesehen, der sich nicht von der Schikane des Königs hatte vertreiben lassen. Sie sprach zu ihm: „Kommt mit mir auf meinen Hof und spielt für mich – die Freude an Eurer Musik soll dauerhaft in meinem Hause wohnen!“
Ein Volksmärchen aus Nepal. Inspiriert nach einer Erzählung von Frau Wolle.
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© Roman Scamoni 2024-12-04