Ein Riese und ein Zwerg saßen nebeneinander auf einer Wiese und weinten bitterlich. Der Riese, weil er ein Riese war. Der Zwerg, weil er ein Zwerg war. Ringsum blühten und dufteten die Blumen, die emsigen Bienen summten, die Schmetterlinge schwebten von Blüte zu Blüte und genossen die warmen Sonnenstrahlen. Der Wind säuselte leise und bewegte sanft die Wipfel der Bäume des Waldes. All das nahmen die beiden Geschöpfe in ihrer Traurigkeit nicht wahr. Sie waren einfach untröstlich.
So saßen sie einige Zeit, bis sich der Riese plötzlich dem Zwerg zuwandte und ihn fragte:“ Warum weinst du, kleiner Zwerg? Du brauchst doch nicht zu weinen. Du hast doch all das, was ich nicht habe. Du kannst dich überall verstecken. Du schläfst in einer gemütlichen kleinen Höhle, niemand läuft vor dir davon und keiner beschimpft dich mit ‘“du fürchterlicher Koloss!“
“Und warum weinst du? “entgegnete der Zwerg dem traurigen Riesen unter Tränen. Ich sehe das ganz anders. Du hast doch alles, was ich nicht habe. Du brauchst keine Angst zu haben vor den großen, wilden Tieren, du siehst weit hinaus in die Welt, bist dem Himmel ganz nahe und niemand sagt zu dir: “Verschwinde, du Winzling!”
Da wurden beide ganz still und nachdenklich. Sie sahen einander an und es war wie ein Erwachen aus einem langen, bösen Traum. Jetzt erkannten sie, wie schön die Welt um sie herum war und Freude vertrieb die Traurigkeit aus ihren Herzen.” Wir sind eben so, wie wir sind und das ist in Ordnung“ sagte der Riese und erhob sich in seiner vollen Größe. Und auch der Zwerg stand auf und sie fingen an zu lachen und auch die Tiere rundherum freuten sich und lachten mit.
Da nahm der Riese den Zwerg in seine Riesenhand und zeigte dem Winzling die große, weite Welt. So sah der Zwerg in der Ferne die kleinen Häuser, einen Kirchturm dazwischen, Flüsse, Seen, Wälder und im Hintergrund ragten hohe Berge bis in den Himmel. Die Sonne war gerade am Untergehen, es war alles so wunderschön anzusehen wie der kleine Zwerg es sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausdenken konnte! Sein winziges Herz klopfte ganz wild und dankbar blickte er dem Riesen in die Augen, trocknete ihm die Riesentränen auf seinen Wangen und sagte, “Es ist das Schönste, was ich je erlebt habe, auf eines Riesen Hand in die weite Welt zu sehen!”.
Der Riese war gerührt und entgegnete seinem kleinen Freund: “Es ist das Schönste, was ich je erlebt habe, dass ein Zwerg mir meine Tränen trocknete“.
© Helmtraud Anzengruber 2020-11-21