Der traurige Riese

Natalja Tschupin

von Natalja Tschupin

Story
Psychiatrische Klinik 2021

Leise schließe ich die Tür hinter mir und trete wieder hinaus auf den Gang der Station. Mittlerweile haben sich die Stühle an der Wand gegenüber des Arztzimmers mit Wartenden gefüllt und ein auffallend großer, dunkelhaariger Mann in einem blauen Trainingsanzug wirft mir einen fragenden Blick zu. Ich signalisiere ihm, dass ich fertig mit meinem Gespräch bin und er als Nächster in die Visite hineingehen kann.

Insgeheim nenne ich ihn den „traurigen Riesen“. Ab und zu wechsle ich ein paar Worte mit ihm, doch die meiste Zeit des Tages ist er still und in sich gekehrt. Fast immer sehe ich ihn lautlos weinen, auch dann, wenn er sehr beschäftigt zu sein scheint. Einmal saß er mir im Ergotherapie-Raum gegenüber, malte konzentriert mit Wasserfarben und schien überhaupt nicht zu bemerken, dass ihm die ganze Zeit die Tränen aufs Papier tropften, eine nach der anderen. Der traurige Riese malte unbeteiligt weiter, so als gehörten die Tränen nicht zu ihm und so als tropften sie nur rein zufällig ausgerechnet aus seinen Augen. Vor einigen Tagen sprachen wir im Raucherbereich – ein kleiner Bereich, der mit einer Glastür von der Station abgetrennt ist und gerade einmal groß genug ist, dass vier Stühle darin Platz finden. Auf der linken Seite ist ein Gitter angebracht, durch das sich hin und wieder ein Windstoß verirrt. Der Boden besteht aus hellgrauem Beton und ist übersät von dunklen Brandflecken und Zigarettenstummeln. Die Wände – ebenfalls aus grauem Beton – bieten genug Platz für Edding-Kunst. Zwischen einem „Pascal war hier 25.04.2021“ und einem etwas unförmigen Herz hat jemand mit Kugelschreiber ein kurzes Gedicht geschrieben:

Sie hält die Fäden in der Hand / Sie zieht mich in ihr Schattenland / dorthin wo die Freude schwindet / und die Zuversicht erblindet.

Der traurige Riese saß schweigend auf einem Stuhl an der Gitterseite und drehte eine Zigarette. Vorsichtig fragte ich ihn, weshalb er so oft weint. Er zog die Augenbrauen hoch und schaute mich einen Moment lang ganz erstaunt an. Schließlich erklärte er mir, er weine doch gar nicht. Er habe eben diese telepathische Verbindung zu einem jungen Mann, der ihm ganz furchtbar schreckliche Dinge erzählt. Er selbst weine eigentlich nicht, sondern dieser traurige junge Mann. Daraufhin zuckte er mit den Schultern, seufzte leise in sich hinein und zündete sich die Zigarette an.

Ich schlendere durch den Gang zurück zu meinem Zimmer und lasse mich dort sofort aufs Bett fallen. Meine Müdigkeit scheint sich nach der Visite verdoppelt zu haben. So als hätte ich nicht fünfzehn Minuten, sondern mehrere Stunden im Arztzimmer verbracht. Schlafen kann ich trotzdem nicht. Die Angst vor der baldigen Entlassung hat sich in meinem Kopf eingenistet und hämmert nun gegen meine Stirn, sobald ich die Augen schließe. „Verantwortung“ und „Funktionieren“, schreit die Angst. „Endlich stabil genug?“, fragt sie vorwurfsvoll. Nach einer halben Stunde beschließe ich, dass es nichts mehr bringt, mich nervös auf meinem Bett hin und her zu wälzen – ich muss mich ablenken. Also greife ich nach ein paar Stiften und meinem Notizblock und mache mich auf den Weg in den Gemeinschaftsraum.

© Natalja Tschupin 2024-03-12

Genres
Romane & Erzählungen, Lebenshilfe
Stimmung
Herausfordernd, Dunkel, Emotional, Reflektierend, Traurig
Hashtags