von Ulrike Sammer
Unlängst sah ich im Fernsehen Interviews mit Jugendlichen. Es ging darum, was sie glauben, wann Sex für Menschen kein Thema mehr wäre. Die meisten meinten, dass ab einem Alter von 60 Jahren erfüllter Geschlechtsverkehr nicht mehr möglich sei. So wird Sex stets mit Jugend in Verbindung gebracht. Darüber hinaus besteht der Irrtum, dass Frauen jenseits der Wechseljahre keine Freude mehr an sexuellen Aktivitäten hätten. Woher kommen diese irrigen Meinungen? Weil kaum jemand über die Wahrheit spricht! Die Geschlechtlichkeit älterer Menschen ist ein einziges Tabu! Nun ist es aber so, dass jeder (egal ob Mann oder Frau) seine Identität auch aus seiner Geschlechterrolle bezieht. Es ist daher schmerzlich, wenn man von einem „sie“ oder einem „er“ zu einem „es“ wird. Auch in fortgeschrittenem Alter tut es einfach gut, wenn man als „Frau“ oder als „Mann“ wahrgenommen wird.
Da aber bei manchen die Vorstellung der Alterssexualität einen richtigen Ekel auslöst, ist es nicht ratsam, detailliert darüber zu erzählen – vor allem zu jüngeren Menschen, deren innere Bilder von jungen, schönen Körpern, oft auch aus Pornos, geprägt sind. Man will sich ja nicht in seinem Ansehen selbst beschädigen.
Ich hatte das unendliche Glück, mancherlei Erfahrungen mit meinem eigenen Lustempfinden und jenem eines männlichen „Du“ zu machen. Natürlich verändert sich die Sexualität, doch Erotik bleibt ein wichtiger Bestandteil des Lebens, wenn auch Zärtlichkeit und Nähe für viele ältere Menschen wichtiger werden.
Eine wesentliche Grundlage für eine erfüllte sexuelle Beziehung ist eine vertraute, vertrauende und intime Beziehung, in der körperliche Veränderungen und eventuelle Einschränkungen nicht als Behinderung, sondern als neue Möglichkeiten des Ausdrucks von Zärtlichkeit, körperlicher und emotionaler Nähe verstanden wird. Ein gesundes Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, mit der eigenen, sich verändernden Ästhetik umzugehen, hat ebenfalls eine wesentliche Bedeutung für einen schamfreien und entspannten Umgang mit der eigenen Sexualität.
Ich bin der Meinung, dass wir uns von den optischen Reizen loslösen müssen und den anderen Sinneseindrücken eine Chance geben sollten. Es ist das schönste Geschenk, wenn zwei sinnliche Menschen den Körper des anderen und den eigenen mit Augen, Ohren, Nase, Mund und Haut genießen.
© Ulrike Sammer 2020-06-13